Lied im Sturm-Leseprobe

Teil I

Kapitel 1

… am Tag des Sturms

Gis, Cis, E – Gis, Cis, E … Und dann, im zartesten Pianissimo, dreimal das Gis. Wie ein Sphärenklang.
Die Töne verwehten, als wüssten sie, wie sinnlos es war, gegen diese Übermacht ankämpfen zu wollen – jenen Sturm, der schon seit Stunden rund um das Haus auf den Klippen tobte, an den Fensterläden rüttelte und die Kronen der Pinien zu Boden zwang, als wolle er sie geradewegs in die Bucht schleudern, zu dem kleinen Segelboot hinab, das dort unten auf den Wellen tanzte – herumgeworfen wurde wie ein Spielball –, sodass es immer unerklärbarer erschien, wie es ihm dennoch gelang, dieser geballten Kraft zum Trotz seinen Mast wieder aufzurichten.
Blitz folgte auf Blitz, zerriss die Schwärze der Nacht, durchdrang selbst den strömenden Regen und verbündete sich mit dem wütenden Sturm zu immer wilderem Treiben. In Bächen stürzte das Wasser vom Himmel, meterhoch peitschten die Wellen über die Felsen, und nicht einmal der Schein des grellen Lichts gab mehr als einen bloß verschwommenen Blick auf die gegenüberliegende Uferpromenade frei.
Ernesto Ribera aber, der reglos am Fenster des Salons stand und auf das Naturschauspiel starrte, hörte die zarten Töne von Beethovens Mondscheinsonate genau. Unauslöschlich hatten sie sich in seine Gedanken gegraben, beherrschten sie stärker, als es die entfesselte Natur konnte, und verschlossen sein Ohr dem Grollen des Donners ebenso wie dem peitschenden Zischen des Blitzes.
Da kam es wieder, jenes Gis, das diesmal mühelos ankämpfte gegen das Unwetter, mochte es auch der zarteste aller Klänge sein und der Orkan draußen jenseits von dem, was ein menschliches Ohr an Lautstärke ertragen konnte.
Mit furchtbarem Krachen zerbarst der Baum neben der Terrasse. Ein Ast brach über das Geländer, riss einen Teil mit sich fort und verschwand gleich darauf mit ihm zusammen in den Fluten des aufgepeitschten Wassers.
Der Mann am Fenster aber rührte sich immer noch nicht. Keiner hätte zu sagen gewusst, ob er das Geschehen außerhalb seiner Gedankenwelt überhaupt wahrnahm oder nur diese Melodie hörte, die in ihm ein ebensolches Toben auslöste, wie es der Sturm auf der anderen Seite der Glasscheiben tat, der jetzt noch stärker versuchte, die Welt aus ihren Fugen zu heben.
Unaufhörlich suchten sich die Töne des ersten Sonatensatzes ihren Weg in sein Innerstes, wühlten es auf, wirbelten es durcheinander und drehten jedes Zeitgefühl so lange zurück, bis es sich in nichts auflöste, um dann in der Tiefe der Erinnerung zu versinken – dem Ast des gefällten Baumes nicht unähnlich, den die Strudel des Meeres bis auf den Grund hinabzogen.
Wie war das möglich? Wer war sie?
Wieso sah sie ihr dermaßen ähnlich?
Als Ernesto Ribera sich mit beiden Händen durch das immer noch dichte, von einzelnen Silberfäden durchzogene Haar fuhr, hielt er erschrocken inne beim Geräusch des eigenen Stöhnens.
Für Sekunden setzte selbst die Melodie aus. Doch nur, um gleich darauf von Neuem zu beginnen.

Einige Zeit davor…

Die Höfe des Alten AKHs in Wien sind ein beliebter Aufenthaltsort. Nicht nur bei den Studenten.
AKH bedeutet Allgemeines Krankenhaus, und in ein solches war das einstige Armenhaus der Stadt unter Kaiser Josef II. umgewidmet worden.
Seit der Übersiedlung der Universitätskliniken in das neue Gebäude am Währinger Gürtel – einem sterilen Koloss, dessen Baukosten im umgekehrten Verhältnis zu seiner architektonischen Bedeutung stehen – dieser Bestimmung wieder beraubt, dient das denkmalgeschützte Alte AKH mit den unzähligen Höfen nunmehr als Universitätscampus.
Auch Klara Köhler hielt sich hier stets gerne auf. Besonders an Tagen wie dem heutigen.
Das milde Wetter ließ alle Knospen gleichzeitig erblühen. Selbst die kurz geschnittenen Rasenflächen unter den ehrwürdigen Baumalleen, die im frischen Schmuck ihrer zarten Blätter Schattenspiele in die Sonnenflecken warfen, waren gesprenkelt von gelbem Löwenzahn und weißen Gänseblümchen. Im Zweiten Hof aber focht der altehrwürdige Cercis siliquastrum, der mächtige Judasbaum – obwohl schon fast zusammenbrechend unter der Last seiner lila Blütenpracht – einen Wettstreit mit dem duftenden Flieder aus, um die Vorherrschaft an Blühfreudigkeit.
Endlich herrschte Frühling.
Nach den langen grauen Wintertagen drängte alles ins Freie. Kein freier Stuhl ließ sich in den zahlreichen Gaststätten finden.
Entsprechend ausgelassen war die Stimmung. Es wurde gelacht und getrunken. Gegessen und geredet. Jedermann schien bestens aufgelegt.
Jogger zogen ihre Runden von Hof zu Hof, Radfahrer mühten sich, den unzähligen Spaziergängern auszuweichen, die meist dann plötzlich stehen blieben, wenn man es am wenigsten vermutete.
Einige besonders Sonnenhungrige hatten es sich im Grün der Wiese vor dem Narrenturm gemütlich gemacht – lasen, lernten, diskutierten oder hörten Musik.
Irgendeiner spielte Gitarre, ein anderer übte, auf einem Seil zu balancieren, das er zwischen zwei Bäumen aufgespannt hatte, die den Ausgang zum nächsten Hof flankierten.
In letzter Zeit kam Klara Köhler nicht mehr so oft dazu, im Alten AKH ihre Runden zu laufen. Zu überfüllt war ihr Stundenplan, seit sie den erforderlichen Schritt getan und ihrem Großvater jegliche Berechtigung entzogen hatte, sich weiterhin in ihr Leben einzumischen.
Seither mied sie sämtliche familiären Treffen in ihrem Heimatort, erschien nur mehr, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ.
Anfangs war der Großvater vermutlich noch sicher gewesen, Klara umstimmen zu können – wie er es seit jeher, nicht zuletzt von seiner Tochter, Klaras Mutter, gewöhnt war.
So versuchte er alles, um Klaras Einlenken zu fördern. Und das bedeutete bei einem Mann wie ihm, dass er jeden Geldhahn zudrehte.
Dabei hatte er einmal mehr nicht mit Klaras Sicht der Dinge gerechnet. Überzeugt, das Richtige zu tun, war sie kein Stückchen kompromissbereit und von dem eingeschlagenen Weg nicht wieder abzubringen. Nicht durch Drohungen, nicht durch Worte. Und schon gar nicht durch Geld.
Also beschloss der Großvater, ihr das Wertvollste zu nehmen, das sie besaß. Er selbst hatte es ihr einst geschenkt. Als Belohnung. Denn kurz zuvor hatte sie die Aufnahmeprüfung an der Universität für Musik bestanden.
Wobei „bestanden“ eine denkbar schwache Bezeichnung dessen ist, was die Prüfungskommission bei Klaras Vortrag empfunden haben mochte, sodass man sie fertig spielen ließ, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen.
Der stolze Großvater, der dieses Gefühl niemals eingestanden hätte, suchte dann auch ein geeignetes Präsent für Klara. Einen Flügel. Schwarz und glänzend. Von erster Qualität, um mit Klaras Talent mithalten zu können.
So fuhr er dann höchstpersönlich mit Klara zusammen in die kleine, aber keineswegs unbekannte Klaviermanufaktur nach Italien. Dort überzeugte Klaras Vortrag den gestrengen Padrone bereits nach den ersten Tönen dermaßen, dass er sie mit den drei infrage kommenden Instrumenten allein ließ – damit sie in aller Ruhe auswählen konnte.
Etwas, das er sonst grundsätzlich nicht tat.
Während Klara spielte, gaben sich Großvater und Klavierbauer nicht nur den Genüssen der italienischen Küche hin. Auch den Weinen sprach man mit Respekt zu, sodass der Tag in ungetrübter Harmonie endete.
Klara aber wusste schon nach kurzem Spiel, welches ihr Flügel werden sollte. Dennoch folgte sie den Herren nicht zum Essen nach, sondern spielte so lange weiter, bis alle zurückkehrten.
Wenn Klara damals bereits zögerte, ein solches Geschenk vom Großvater überhaupt anzunehmen, hatte ihre Mutter jeden Zweifel mit dem Argument zerstreut, dass sie selbst stets einen Modus Vivendi mit dem übermächtigen Vater gefunden hatte. Einen Kompromiss, der beiden Seiten ein Miteinander ermöglichte.
So war der Flügel bei Klara eingezogen, in ihr WG‑Zimmer.
Obwohl dieser Raum kein Zimmer im eigentlichen Sinn war. Denn seit einer von Klaras Vorgängern dort die Zwischenwände von drei aneinandergrenzenden Räumen entfernt hatte, glich das Ganze mehr einem lang gezogenen Saal. Perfekt für Klara – doch unter normalen Umständen nicht im Einklang mit ihrem Budget.
Zum Glück lag das Saal-Zimmers innerhalb der weitläufigen WG‑Wohnung dergestalt, dass jeder Mitbewohner hindurchmusste, um zu seinem eigenen Raum zu gelangen. So kamen Klara und der Flügel recht günstig zu ihrer Bleibe.
Einige Paravents dienten fortan als Sichtschutz. Doch das war Klara ohnehin egal.
Ihr Bett, das man bei der Übersiedlung achtlos an einer der Wände abgestellt hatte und das immer noch an demselben Platz stand, bedeckte sie mit einer bunten Decke, die sie kostengünstig bei einer Wohnungsauflösung erworben hatte. Darauf stapelten sich tagsüber Unmengen an Notenblättern, die abends auf den sorgsam mit einem grünen Überwurf bedeckten Flügel übersiedelten.
Ein großer Seekoffer beherbergte sämtliche Kleidungsstücke, die Klara – den Militärs nicht unähnlich – zu winzigen Paketen rollte, sodass eine sterile Ordnung herrschte, nichts zerknitterte und alles seinen Platz behielt.
Vor dem Koffer standen Klaras Schuhe in Reih und Glied: ein Paar zum Gehen. Ein weiteres zum Klavier spielen.

***

Über vier Jahre lang besuchte Klara anschließend die Universität, bevor das Zerwürfnis mit ihrem Großvater geschah.
Inzwischen hatte Klara schon eigene Schüler und begleitete so manchen Sänger durch dessen Liederabend, der dabei nicht ausschließlich Klaras Klavierspiel bewundert haben mochte, sondern zunehmend die Pianistin selbst. Denn auch wenn Klaras Aussehen nicht an ihr musikalisches Talent heranreichte, war sie durchaus eine mehr als ansprechende Erscheinung – etwas über mittelgroß, mit dunklen Augen, in denen sich ihre gesamte Gefühlswelt offen spiegelte, einem olivfarbenen Teint, dichtem Haar und einer biegsamen Figur.
An einem dieser Liederabende war sie erst in allerletzter Minute eingesprungen. Und genau an jenem Abend wollte es das Schicksal, dass sie von einem der berühmtesten Pianisten unserer Zeit gehört wurde – eigentlich nur, weil dessen Frau eine entfernte Verwandte des jungen Tenors war, den Klara durch das Programm begleitete.
Wie er ihr später selbst erzählte, hatte Raoul Bachblum dem Abend zunächst mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Da ihn aber eine große Innigkeit mit seiner Frau verband, beschloss er, den Vortrag auf jeden Fall zu genießen, unabhängig davon, wie er ihn insgeheim beurteilte.
Wann immer Klara sich später zurückerinnerte, spürte sie jedes Mal aufs Neue ihren beschleunigten Herzschlag angesichts von Bachblums Erscheinen in der Garderobe unmittelbar nach dem Ende des Konzerts.
Eine ganze Weile lang sagte er nichts, hielt Klaras Hand fest zwischen seinen beiden, die sich warm anfühlten und deren Druck Klara nicht unangenehm war.
Währenddessen fuhr er fort, Klara ungeniert zu mustern, um irgendwann ihren Blick einzufangen und nicht wieder freizugeben.
„Wenn du es gerne möchtest, erzähle ich dir einiges von dem, was ich weiß und was dich nur das Leben selbst lehren kann. Von dessen Existenz du derzeit noch nicht die leiseste Ahnung hast“, sagte er völlig übergangslos.
Selten geschah es, dass Klara keine passende Antwort einfiel. Doch in diesem Moment war sie sprachlos. Konnte Bachblum bloß anstarren.
Bis der zu lächeln anfing. „Hier, meine Nummer. Ruf mich an. Ich könnte dir zwar auch technisch noch einiges beibringen. Aber wichtiger ist es, dass du dich selbst besser kennenlernst, die Ursachen erforschen lernst, woran es liegen könnte, wenn du einmal in keiner guten Phase steckst, möglicherweise sogar schlecht bist und auf der Stelle trittst, nicht weiterkommst. Damit du dich nicht aus Eigenverliebtheit oder Selbstüberschätzung von einem dieser Scharlatane, die überall herumlaufen, zerstören lässt.“
Gleich am nächsten Tag hatte Klara angerufen.
Seither stellten die unregelmäßigen Treffen in der Hietzinger Villa des Pianisten einen wesentlichen Bestandteil von Klaras Leben dar.
Für Bachblum war Klara eine Art Eliza Doolittle, wie Bachblums Frau Sarah irgendwann mit dem Anflug des ihr eigenen Humors erzählte, während sie dafür sorgte, dass keiner Hunger litt, wenn Klara und ihr Mann sich stundenlang ihrem Lieblingsthema widmeten: der Musik.
Hatte Klara bis zu jenem Moment gedacht, etwas über Musik zu wissen, wurde ihr anlässlich dieser Gespräche klar, dass es unendlich viel gab, was sie dazulernen konnte.
So wurde Bachblum ihr Mentor. Der wichtigste Mensch in dieser Phase ihres Lebens.
Nicht zuletzt deshalb kam es in der Folge zu dem Zerwürfnis mit Klaras Großvater.

***

Mit einigen Streckübungen beendete Klara jetzt ihr Lauftraining, das sie dreimal rund um die Höfe geführt hatte. Das Bein auf einem Radständer abgestützt, beugte sie ihren Nacken, bis die Stirn das ausgestreckte Knie berührte. Dann drückte sie die Schultern zurück, dehnte die Arme und schüttelte die Handgelenke aus.
„Klara!“
Beim Klang der Stimme fuhr Klara herum und ein Lächeln erhellte ihre Züge. Ohne zu zögern lief sie auf den jungen Mann zu, in dessen Arme sie sich warf.
„Stepan. So schön, dass du endlich zurück bist. Ich wollte eben zu unserem Treffpunkt gehen. Gut siehst du aus.“
„Und so wie du aussiehst, geht es dir ebenfalls gut. Seit wann joggst du eigentlich?“ Immer noch hielt er sie fest.
„Seitdem du fort bist. In den letzten Wochen leider viel zu selten. Kaum noch Zeit dafür. Ich habe dich vermisst. Erzähl schon. Wie war das Jahr in den Staaten? Seit wann bist du zurück? Wie geht es dir?“ Die Worte sprudelten nur so hervor.
Er lachte. „Seit einer ganzen Woche schon. Ich hab eine Menge Neuigkeiten. Aber zuerst du. Was gibt es, das du mir nicht schon geschrieben hast?“
„Nichts. Zumindest nichts Wichtiges. Lass uns zu unserer Lieblingsbank gehen. Sieh nur, dort scheint sogar die Sonne.“
„Wie wär‘s mit einem Kaffee?“, fragte er. „Ich lade dich ein. Zur Feier des Tages.“
„In eineinhalb Stunden muss ich in Hietzing sein.“
„Dann lass uns die Zeit nutzen.“

Er hakte sie unter, während sie die entgegengesetzte Richtung einschlugen.
Als sie vor dem Lokal ankamen, erhob sich ein Pärchen von einem der wenigen Sonnenplätze, denn die rot blühenden Kastanienbäume spendeten noch unwillkommenen Schatten über den grün lackierten Holztischen. Ihre weit ausladenden Kronen würde man erst später zu schätzen wissen. Dann, wenn die brütende Sommerhitze die Höfe bis in die Abendstunden aufheizte. Zu dieser Jahreszeit aber war noch jeder Sonnenstrahl willkommen.
Leise knirschte der weiße Kies, als sie die Stühle zurechtrückten.
„Endlich Frühling“, sagte Klara.
„Wie war der letzte Winter hier? Nicht besonders streng, oder? Zumindest habe ich es aus deinen Mails so verstanden.“
„Nicht übermäßig. Nur endlos. Und neblig, wie immer.“
„Du hast ganz schön Fortschritte gemacht in Richtung Karriere, wie man so hört“, lächelte Stepan.
„Dann hörst du offenbar mehr als ich.“
„Umhören gehört schließlich zu meiner Profession. Doch ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Du selbst hast es einmal erwähnt. Es ist dir also tatsächlich gelungen, Bachblums Schützling zu werden. Ein einmaliger Glücksfall, würde ich schon meinen. Nicht nur, weil er einer der Besten ist. Allein seine Möglichkeiten …“
Klara lächelte. „Er ist wirklich ein Geschenk. Jedes Gespräch, jeder noch so kleine Hinweis von ihm ist kostbar. Schenkst du mir deinen Zucker? Du nimmst doch immer noch keinen, oder?“
Während sie die Zuckerwürfel aus dem Papier wickelte, in den Kaffee tat und umrührte, musterte Stepan sie nachdenklich.
„Könnte ich vielleicht irgendwann mit dir kommen? Ich würde Bachblum zu gerne persönlich kennenlernen.“
„Seit wann interessierst du dich für Musiker?“
„Für dich habe ich mich doch auch interessiert. Schon während unserer Schulzeit. Auch wenn du mehr vom Musikverein geträumt hast als von mir.“
Sie lachte. „Wir waren Kinder.“
„Wir sind schon lange keine Kinder mehr.“
„Und du? Was ist mit deinen Zielen? Träumst du etwa nicht mehr, eines Tages den Pulitzer-Preis zu bekommen?“
Er zwinkerte ihr zu. „Aber selbstverständlich! Also was? Wann eroberst du die Musikwelt?“
„Da ist vielleicht etwas, eine kleine Möglichkeit. Bachblum hat mich dafür vorgeschlagen. Es geht um die Mozarttage. Das Klavierkonzert in C‑Dur. Pauline Eschweg musste kurzfristig absagen. Die Veranstalter brauchen Ersatz, und wie es aussieht, ist keiner ihrer Wunschkandidaten verfügbar. Drück mir also die Daumen, vielleicht hilft es ja. In der nächsten Woche werden sie entscheiden. Allerdings besteht der Dirigent auf jemandem, mit dem er bereits gearbeitet hat, und das ist bei mir nun einmal nicht der Fall.“
„Das würde dich deinem Traum ein großes Stück näher bringen, nicht wahr? Und da sagst du, es gibt keine Neuigkeiten?“
„Es ist ja nur eine winzige Chance“, seufzte Klara und sah plötzlich unendlich verloren aus. „Viel wahrscheinlicher ist, dass mein Traum gerade in weite Ferne rückt. Aber reden wir nicht von mir. Was gibt‘s bei dir? Du hast geschrieben, du würdest es mir persönlich erzählen. Jetzt mach schon. Spann mich nicht auf die Folter.“
Er ging nicht darauf ein. „Was ist mit deinem Traum?“, beharrte er. „Was ist denn passiert?“
„Nichts“, meinte Klara und senkte den Kopf. „Nur einmal mehr mein Großvater. Wie schon so oft. Das ist eben eine endlose Geschichte.“
„Dann solltest du anfangen, sie mir zu erzählen.“
„Ach Stepan. Wir haben uns wieder einmal gestritten. Diesmal kann ich nicht nachgeben. Sein Geld war mir immer schon egal. Aber jetzt verlangt er den Flügel zurück.“
„Den Fazioli?“
Sie nickte. An der Art, wie sie den Kopf hielt, konnte man ihren Kummer mühelos erkennen.
„Willst du meinen Rat?“, fragte Stepan. „Sag einfach Nein und behalt den Flügel. Schließlich brauchst du ihn. Mehr als alles andere ist er wichtig für dich. Das weiß dein Großvater genau. Es ist schon eine ordentliche Gemeinheit, ihn von dir zurückzuverlangen. Also denk am besten nicht einmal darüber nach.“
„So einfach ist das nicht.“
„Das ist völlig einfach. Dein Großvater hat ihn dir geschenkt. Oder?“
„Hat er. Aber …“
„Geschenkt ist nun einmal geschenkt, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.“
Da sie nicht antwortete, fasste er nach ihrer Hand.
„Was will er wirklich von dir? Es geht doch gar nicht um den Flügel?“
Klara schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht. Er weiß doch, wie sehr ich an ihm hänge. Obwohl … inzwischen könnte ich es mir sogar leisten, ein geeignetes Instrument auszuleihen.“
„Aber keines reicht an deinen geliebten Fazioli heran.“ Sein Lächeln war ein wenig spöttisch, trotzdem aber verständnisvoll, ja fast zärtlich. Ihre Blicke versenkten sich ineinander.
„Hör mir zu, Klara. Das alles sind sinnlose Machtspielchen, von denen du dich fernhalten solltest. Noch dazu, da es nicht das erste Mal ist, dass dein Großvater dir seinen Willen aufzwingen will. Wie er überhaupt jeden zu unterdrücken versucht. Am besten, du vergisst es, wenn du schon nicht ihn vergessen kannst. Worüber habt ihr euch eigentlich gestritten? War es wichtig? Wohl kaum. Wenn du nach oben kommen willst, ist nur eines von Interesse: du selbst. Ich bin nicht der Einzige, der dir das sagt. Denk an Hofner, deinen ersten Lehrer am Konservatorium, an Leitner, ja sogar an Kroll, der nie restlos von dir überzeugt war. Was haben sie immer gepredigt? Jeder von ihnen? Du musst lernen, deinen Weg zu gehen, wenn du Erfolg haben willst. Ohne falsche Rücksicht. Dazu gehört auch zu kämpfen. Und niemals nachzugeben, wenn es schlecht für dich ist.“ Stepan ließ Klaras Hand los und lehnte sich zurück.
Klara seufzte.
„Es kommt mir dennoch nicht richtig vor. Großvater und ich … Seine Ansichten sind unerträglich, das weißt du nur zu gut. Sie waren es immer schon. Daran wird sich nie etwas ändern. Ich kann dazu nicht schweigen. Deshalb will ich eigentlich nichts besitzen, was irgendwie meinem Großvater gehört.“
„Der Flügel gehört ihm aber nicht. Er gehört dir. Außerdem ist er nur ein Vorwand. Um dich geht es ihm. Dein Großvater setzt den Flügel als Druckmittel ein, in der Hoffnung, dich in die Knie zu zwingen. Natürlich gefällt ihm, wie großartig du spielst. Ich sehe ihn noch genau vor mir, deinen alten Herren, an jenem Tag, als du uns das erste Mal auf dem Fazioli vorgespielt hast. Er ist vor Stolz fast zersprungen. Aber er will immer die Kontrolle behalten. Über dich. Über deine Karriere. Über alles. Darum passt es ihm überhaupt nicht, dass du deinen Weg alleine gehst, niemanden benötigst. Denn in Wahrheit braucht dein Großvater dich, nicht umgekehrt. Auch wenn du stärker an ihm hängst, als du dir eingestehst.“
„Dennoch würde ich ihm den Flügel am liebsten zurückgeben“, sagte Klara zögernd. Klang und Farbe ihrer Stimme hatten sich verändert. Plötzlich wirkte sie unsicher, ganz anders als zuvor. Ein aufmerksamer Beobachter hätte auch den Glanz in ihren Augen vermisst und die sprühende Lebendigkeit, die ihr sonst zu eigen waren.
„Nenn mir einen Grund dafür. Deine Begabung ist etwas Einzigartiges. Und sie gehört dir allein. Du musst also niemandem dankbar sein und kein schlechtes Gewissen haben. Wenn du deine Freiheit nicht verteidigst, wirst du sie verlieren. Wir beide, du und ich, wir sind angetreten, der Welt unseren Stempel aufzudrücken. Muss ich dich erst daran erinnern? Vergiss das niemals. Der Weg wird noch steinig genug werden. Und der Flügel ist dir nun einmal wichtig. Er lässt sich nicht so beliebig gegen ein anderes Instrument austauschen. Also musst du leider kämpfen. Selbst wenn es vielleicht einfacher wäre, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.“
Klara sah weiter stumm vor sich hin. Während sie noch nach Argumenten suchte, kein einziges fand, das Stepan nicht mit Leichtigkeit hätte widerlegen können, spürte sie, wie recht er damit hatte. Es gab Situationen, wo kämpfen unerlässlich war. Auch wenn nachgeben vernünftiger schien.
„Natürlich geht es Großvater nicht um den Flügel.“ Klara betrachtete ihre Finger. Ihre Stimme klang wieder ruhig. „Du kennst ja seine Gesinnung … diese ganzen Ansichten. Sie sind inakzeptabel für jeden anständigen Menschen. Ich habe keine Ahnung, wie Mama es erträgt, wo ich doch genau weiß, dass sie völlig anders denkt. Dennoch tut sie so, als würde sie diese Bemerkungen nicht wahrnehmen. Inzwischen gibt Großvater sich nicht einmal zufrieden, wenn man versucht, die Themen tunlichst zu meiden. Er will seine Meinung durchdrücken, sie als richtig anerkannt wissen. Aber genau das werde ich niemals machen.
Mutter hat es wohl irgendwann getan. Sie spricht nie darüber, aber ich weiß genau, dass sie mit Großvater aneinandergeraten ist. Schon als Kind habe ich es gespürt, doch keiner wollte meine Fragen beantworten, erst recht nicht Mutter. Da war etwas. Vor langer Zeit. Mama hat vermutlich wieder einen dieser Kompromisse geschlossen, wie sie es immer tut, und es hat sie nicht glücklich gemacht. Vaters Tod … selbst jetzt noch kann ich ihn mir nicht erklären, verstehe nicht, was damals geschehen ist. Aber es hängt irgendwie zusammen.
Ihr Leben lang hat Mutter nach Kompromissen gesucht. Tut es auch heute. Beim letzten Streit hat sie wieder beschwichtigt, mich zu überzeugen versucht, dass Großvater nur so daherredet, es nicht ernst meint. Keine Ahnung, warum sie das macht. Sie weiß genau, dass das Gegenteil der Fall ist: Großvater meint sehr wohl, was er sagt.
Hast du gewusst, dass sein Vater, also mein Urgroßvater, ein echter Nazi war? Wer sonst hätte zu jener Zeit seinen Sohn ‚Adolf‘ genannt? Aber denkst du, Großvater würde eingestehen, dass in unserer Familie überzeugte NSDAP-Mitglieder waren? Das wird stets heruntergespielt und verharmlost. Als wäre jeder verpflichtet gewesen, der Partei beizutreten, sogar, als sie in Österreich noch verboten war, in den Jahren vor 1938. Keine Rede, dass unsere Familie davon profitiert hat. Auch unseren Hof haben wir günstig kaufen können, weil die Vorbesitzer auswandern mussten. Zum Glück sind sie wenigstens rechtzeitig fortgekommen, nicht wie die anderen, die es nicht wahrhaben wollten, was rundherum geschieht, oder keine Möglichkeit dazu hatten. Immer wieder muss ich mir diese Sprüche anhören. Großvater kann es einfach nicht lassen. Er wird sich niemals ändern.“
„Was ist denn diesmal passiert? Willst du es mir erzählen?“, fragte Stepan.
„Bachblum“, antwortete Klara nach einigem Zögern. „Er ist Jude.“
Sie begegnete Stepans Blick und bemerkte genau den Moment, als sein Verstehen sich in Abscheu verwandelte.
„Das hat er so gesagt?“
„Mehr noch. Nach einigen Schnäpsen waren wir bei der erforderlichen Säuberung der Kulturszene von unterminierenden Einflüssen.“
„Welch ein Wunder, dass ich bisher bestehen konnte vor ihm, oder irre ich mich?“, sagte er bitter.
Klara sah ihn nur reglos an.
„Kacic ist nicht gerade ein germanischer Name“, sagte Stepan gedehnt.
„Hör bitte sofort auf.“
„Verzeih“, bat er schnell. „War nur eine überflüssige Bemerkung. Aber ich möchte zu gern wissen, was dein Großvater von mir denkt.“
„Dass du der Beweis einer gelungenen Eingliederung bist. Mehr noch, dass Ehrgeiz und Fleiß, also grundsätzlich typisch germanische Eigenschaften, sich mit richtiger Führung auch bei Slaven wiederfinden können. Sogar dein Deutsch findet er, wenn nicht perfekt, so doch akzeptabel“, fuhr Klara emotionslos fort.
Lange sahen sie einander an. Bis Stepan sie näher zog.
„Wir sollten das lieber bleiben lassen. Denn wenn ich dir sage, dass du nicht die geringste Ähnlichkeit mit deinem Großvater hast, wäre das nur eine weitere überflüssige Bemerkung.“
Nur langsam kehrte das Leuchten in Klaras Augen zurück.
„Eigentlich ist es ja sinnlos. Vielleicht macht mich gerade das wütend. Großvater lässt sich nun einmal nicht ändern, nicht durch diskutieren – und nicht durch streiten.“
„Das stimmt so nicht“, sagte Stepan fest. „Möglich, dass wir deinen Großvater nicht ändern können. Dennoch dürfen wir nicht generell schweigen. Niemals. Das weißt du.“
Nach einer langen Pause holte Klara tief Luft. Es klang wie ein Seufzen.
„Weißt du, mir ist soeben etwas klar geworden. Du hast recht. Der Flügel gehört mir, und er ist mir wichtig. Dennoch will ich kein Geschenk mehr von meinem Großvater haben. Daher werde ich ihm das Geld zurückzahlen. Jeden einzelnen Cent. Egal, wie lange es dauert und welche Anstrengung es kostet. Das ist bestimmt das Letzte, womit er rechnet.“
„Du wirst es schneller schaffen, als du glaubst. Wenn du dir selbst nur nicht untreu wirst. Konzentrier dich auf deine Träume. Den goldenen Musikvereinssaal. Die großen Dirigenten. Barenboim, Welser‑Möst, Muti. Ist das nicht ein Ziel, für das zu kämpfen es sich lohnt?“
Noch während er sprach, begann Klara zu lächeln, und die unbeschwerte Heiterkeit kehrte zurück.
„Ich fürchte leider, es ist Zeit. Du musst gehen“, sagte Stepan mit einem Blick auf die Uhr.
Klara sprang auf.
„Wann haben wir endlich wieder mehr Zeit für uns?“, fragte sie.
„Wie wär‘s mit morgen?“
„Abends? Bei mir?“
Er erhob sich ebenfalls, umarmte Klara kameradschaftlich und schob sie dann ein Stück von sich.
„Morgen Abend bei dir also. Ich möchte dich endlich wieder spielen hören. Bin gespannt, wie du dich im letzten Jahr entwickelt hast. Obwohl …“ Er zwinkerte ihr vergnügt zu. „Deine Paravents sind in manchen Situationen schon gewöhnungsbedürftig. Dabei kann ich verschlossene Türen im Allgemeinen nicht besonders leiden.“
Klara kicherte übermütig. „Das ist doch nur Einbildung. Keiner hört was. Und wenn schon … Denk einfach daran, wie hellhörig Hotelzimmer sind.“
Immer noch lachend lief sie auf den Ausgang zu, machte wieder kehrt und umarmte Stepan heftig. Diesmal war sein Kuss nicht kameradschaftlich.
„Ich freue mich auf morgen“, flüsterte sie ein wenig atemlos.
„Warte erst, bis ich es dir erzählt habe“, rief er ihr nach.
„Was denn?“
„Überraschung! Und jetzt mach. Sonst kommst du wirklich zu spät.“
Ein letztes Mal drehte Klara sich um, winkte übermütig und war kurz darauf zwischen den Bäumen verschwunden.