Mein Leben ist schön – Leseprobe

Kapitel 1

 

Das Haus war winzig – kleiner noch als in ihrer Erinnerung. Dabei hatte sie selbst es immer Mein Puppenhäuschen genannt. Doch das gehörte der Vergangenheit an, lag in einer Zeit, an die zurückzudenken schwerfiel.

Anna Katharina Neumann kramte nach dem Schlüsselbund, fand ihn am Boden ihrer Handtasche, steckte den mit einem säuberlich beschrifteten Pappschild versehenen Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Dabei bemerkte sie, wie ihre Hand zitterte.

Langsam versuchte Anna durchzuatmen. In ihren Ohren war ein unangenehmes Rauschen und der Puls pochte an der Kehle.

Vermutlich hatte sie zu wenig getrunken, dachte Anna, die man immer nur Ann gerufen hatte – ihre Mutter ebenso wie der Vater.

Während sie sich an ihre Eltern erinnerte, bemerkte Ann den kalten Schweiß auf ihrer Stirn, spürte ihn auch über den Rücken rinnen. Sie dachte an Jonas, ihren Sohn, sah ihn wieder vor sich, an der Hand seines Großvaters bei der Beerdigung. Das war vor fast einem Jahr gewesen.

Sie hätte den Kaffee nicht trinken sollen, im Flugzeug, versuchte Ann, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Er war zu stark gewesen, abgestanden.

Mit Sicherheit hatte sie auch zu wenig gegessen.

Schon lange aß sie zu wenig. Längst vorbei die Zeit, da sie jeden Morgen auf die Waage gestiegen war, um ihr Gewicht zu kontrollieren.

Sie drückte die Klinke hinunter und die Tür gab geräuschlos nach. Im Inneren des Hauses herrschte völlige Dunkelheit. Nur schemenhaft waren die Umrisse der Möbelstücke zu erkennen, die Ann mehr erahnen, als sehen konnte.

Ann warf einen Blick zurück auf die Straße. Sie war menschenleer.

Inmitten des Grasstreifens, der die Häuserzeile von der Fahrbahn trennte, wuchsen schlanke Bäume in gerader Reihe, deren zarte Blätter ebenso zierlich wirkten wie die Stämme.

Es war kurz nach dreizehn Uhr.

Hoch stand die Sonne am Himmel und ließ die Luft flimmern. Dabei war es erst April. Doch in dem kleinen Ort, nur einige wenige Kilometer vom Meer entfernt, war es windstill und warm. Deutlich wärmer als um diese Jahreszeit in Küstennähe, wo der kalte Wind, der vom Wasser landeinwärts wehte, einen frösteln ließ – zog man nicht sofort seine Jacke an, sobald sich die kleinste Wolke zeigte.

Ein einziges schon etwas in die Jahre gekommenes Auto parkte auf der Nebenfahrbahn – außer dem schwarz glänzenden Wagen, den Ann am Flughafen geliehen hatte. Drei Mopeds standen in einiger Entfernung am Ende der Häuserzeile. Ihre deutlichen Gebrauchsspuren zeugten von einem bewegten Vorleben.

Das Geräusch eines Traktors, der soeben auf der Straße vorbeifuhr, wirkte in der verschlafenen Stille des kleinen Ortes wie das Dröhnen eines startenden Flugzeugs.

Schnell schloss Ann die Tür.

Hatte sie befürchtet, sich in völliger Dunkelheit wiederzufinden, musste sie feststellen, dass jenes bisschen Licht, das trotz der geschlossenen Fensterläden hereinfiel, ausreichte, um sich problemlos zurechtzufinden.

Auf der rechten Seite stand die Bank aus der Biedermeierzeit, die Ann einst bei einer Auktion erstanden hatte. Sie war restauriert worden und mit einem neuen Stoff bezogen – dicke schwarze Striche auf weißem Grund, wie schnell skizziert, geometrische Formen in Rot, Gelb, Blau und Grün, die ein wenig an Miró erinnerten und nichts gemein hatten mit dem blassen Blümchenmuster von zuvor.

Der Sekretärin von Anns Vater war die Aufgabe zugefallen, eine Spedition zu beauftragen und den Makler zu verständigen, der sich seit nunmehr fünf Jahren um das Häuschen auf Mallorca kümmerte – wenn es leer stand. Was meist der Fall war.

Wie alles, was die Sekretärin erledigte, war auch der Transport der Bank perfekt organisiert worden. Sie stand, wo Ann sie haben wollte.

Hatte es tatsächlich eine Zeit gegeben, wo ihr so etwas wichtig war, dachte Ann. Den Platz einer Bank festlegen. Für ein Haus, in das nie einer kam?

Auch der Teppich lag an seinem vorbestimmten Platz – ein antikes Stück, dessen Charme durch die bleichen Pflanzenfarben und die abgetretenen Stellen noch zusätzlich unterstrichen wurde.

Ann hatte Teppich und Bank noch nie hier gesehen. Hatte das Haus zuletzt vor drei Jahren betreten. Zusammen mit Pamela, ihrer besten Freundin, die als Einzige für den Trip auf die Insel zu begeistern gewesen war. Denn Wilfried, Anns Mann, weigerte sich kategorisch, lehnte es ab, auch nur einen einzigen Tag in dem Haus zu verbringen.

„Das kann nicht dein Ernst sein“, hatte er nur gemeint.

„Ätzend“, pflichtete Jonas dem Vater bei wie immer. „Mallorca ist doch völlig uncool.“

Ann ließ sich auf die Bank sinken, während sie die Lippen zusammenpresste.

„Und was willst du mit allem anfangen?“, hatte selbst Pamela gefragt, als sie dann in dem italienischen Restaurant zu Abend aßen, dessen ausgezeichneter Ruf bis nach Deutschland reichte.

Die Lage unmittelbar am Meer war einzigartig und eine edle Dekoration, wuchernde Pflanzen, verschwenderische Blütenfülle sowie liebevoll gedeckte Tische verstärkten das mediterrane Ambiente noch zusätzlich. Kein Wunder also, dass das Lokal auch als bevorzugter Treffpunkt für Verliebte galt, die nicht nur die Speisen, sondern auch die romantische Atmosphäre zu schätzen wussten.

Waren sie und Wilfried jemals so verliebt gewesen, überlegte Ann. Oder hatte sie sich das nur eingebildet, weil sie es sich wünschte, romantisch zu sein.

„Wieso?“, hatte Ann die Freundin damals gefragt.

„Du wirst das Haus doch nicht auf Dauer behalten wollen, oder?“, fragte Pamela.

„Warum nicht?“

Pamela spielte mit dem Stiel ihres Proseccoglases, drehte es zwischen den Fingern.

„Aber wozu willst du es denn? Keiner von euch kommt her. Es ist großartig geworden. Du hast ausgezeichnete Arbeit geleistet und ich bin sicher, du wirst das Haus mit Gewinn verkaufen. Es hat Ambiente. Auch die Einrichtung. Technisch gesehen ist es ohnehin vom Feinsten. Dein Konzept ist also aufgegangen. Du wolltest beweisen, dass man Technik mit Flair kombinieren kann. Und das alles auf sparsamste Weise. Living for the Poor, gewissermaßen, aber auf höchstem Niveau. Wenn sich das erst herumspricht, wirst du dich vor Aufträgen nicht retten können. Außerdem hast du es allein gemacht, ohne Wilfrieds Hilfe, ohne deinen Vater. Du kannst stolz auf dich sein. Warum entwickelst du daraus nicht einen eigenen Geschäftszweig? Wenn du aber kein Geschäft planst – was willst du mit dem Haus? Keiner von euch braucht es.

Natürlich hatte Pamela recht gehabt. Keiner hatte das Häuschen je gebraucht. Und keiner hatte es gewollt. Schon gar nicht Wilfried.

Für ihn war es kein Beweis von Anns Können als Architektin. Er sah es als Marotte an. Eine Spielerei, die Geld kostete. Bestenfalls hatte er ihr Tun belächelt.

Ann hatte das Haus dennoch nicht hergegeben. Obwohl sie sich manchmal selbst fragte, was genau sie da tat, wenn sie Geld überwies für die Pflege des Hauses.

„Verkauf endlich dieses Mallorca“, hatte dann auch ihr Vater stets gemeint, wenn er die Beilagen der Steuererklärung studierte. „Dein Konzept funktioniert, das hast du bewiesen und das muss reichen. Keiner hat Zeit, um verfallene mallorquinische Häuser zu sanieren. Das kostet mehr, als es einbringt. Deine Verpflichtungen sind in Deutschland, in der Firma, bei deiner Familie.

Du hast einen Ehemann, der dich braucht. Und einen Sohn. Oder willst du wieder hin- und herpendeln? Von dem Behördenkram mal abgesehen. Das war in Ordnung, als wir diese Seniorenresidenz gebaut haben. Einer aus der Geschäftsleitung ständig vor Ort sein musste. Deine Idee, mit begrenzten Mitteln erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, unter größtmöglicher Schonung von Ressourcen – könnte umgesetzt werden. Doch was ist daran zu verdienen?

Also lass es, wo es hingehört. Im Bereich der Sozialromantik. Hier gibt es weiß Gott genügend zu tun. Du hast Aufgaben, denen du verpflichtet bist, nicht nur als Vorsitzende im Verein der Denkmalpflege. Du bist auch die Schirmherrin unserer weihnachtlichen Spendensammlung, hast jede Menge repräsentativer Aufgaben. Was noch alles willst du machen? Also verkauf das Haus. Und wenn du derart daran hängst, dann vermiete es von mir aus. Aber sorge dafür, dass es nicht länger ein Negativposten ist.“

Ann hatte das Häuschen nicht verkauft, sie hatte es auch nicht vermietet.

Warum eigentlich? Darüber wollte sie nicht nachdenken.

Gab es so etwas wie Vorahnung?

Tief holte sie jetzt Luft und stand auf. Fünf Schritte reichten und Ann erreichte die schmale Tür, die von der winzigen Küche aus in den fast ebenso kleinen Innenhof führte. Sie stieß die Fensterläden aus braun gebeiztem Holz auf und trat hinaus.

An vier Seiten von hohen Mauern umgeben, blieb nur der Blick nach oben frei, wirkte wie ein Fenster in die Unendlichkeit. Auch heute war der Himmel von blauer Farbe, so wie an den meisten Tagen des Jahres. Nur wenige Wölkchen zogen darüber, betonten das Blau und passten in ihrer Winzigkeit perfekt zum Hof.

Eine weiß gestrichene Eisenbank stand an einer der Seiten, davor ein weißes Tischchen. Nur ein einzelner Hocker fand daneben noch Platz, unter dessen abnehmbarer Sitzfläche die Kissen verstaut waren, die Ann jetzt herausnahm.

Die Wände der Häuser, die den Hof einschlossen, waren aus Marès, jenem für die Gegend so typischen Kalkstein, aus dem die meisten Gebäude des Ortes errichtet waren.

Vereinzelt konnte man die eine oder andere Fassade zwischen dem dichten Blattwerk durchschimmern sehen, das hier überall wucherte. Bougainvilleas – in Lila, aber auch in Rot, in Weiß, in Gelb – leuchteten hervor. Efeu kletterte mit wildem Wein um die Wette, dazwischen rankten Glyzinien. An jedem noch so kleinen Platz standen Kübel mit Oleandern, Philodendren und kleinwüchsigen Palmen.

All das erinnerte irgendwie an einen Wintergarten, dessen Dach man vergessen hatte zu schließen, ein Mikrokosmos der Stille, der die Welt draußen kategorisch ausschloss.

Reglos verharrte Ann und sah in den Himmel hinauf.

Es war das Klingeln ihres Handys, das sie aus ihrer Starre riss.

Während das Telefon weiter läutete, fixierte Ann ihre Handtasche. Irgendwann hörte das Klingeln auf und die Stille kehrte zurück.

 

***

 

Als Ann erwachte, war es mitten in der Nacht. Ein Traum hatte sie geweckt, wie er das jede Nacht tat. Seit dem Tag, der ihr Leben für immer verändert hatte.

Reglos blieb Ann auf dem Bett liegen, sie wusste, dass der Schlaf nicht wiederkommen würde. Dabei war sie so müde. Hatte jegliche Energie verloren.

Wilfried, dachte sie. Und einmal mehr brachte der Name keinen Trost. Nur die Leere blieb. Einsamkeit. Verzweiflung. Und das lähmende Gefühl von Schuld.

Sie hatte ihren Mann doch geliebt – oder etwa nicht? Es waren gute Zeiten gewesen, zusammen. Was davon war übrig geblieben?

Jonas. Fast zwölf Jahre war er alt. Hatte alles, was man für Geld kaufen konnte. Nur keinen Vater mehr und eine Mutter, die er nicht liebte.

Ohne noch weiter zu überlegen, schwang Ann die Beine aus dem Bett. Beim Aufstehen duckte sie sich, um nicht den Kopf an einem der Deckenbalken anzustoßen.

In gebückter Haltung tastete sie sich zum Stuhl vor, auf dem ihre Jacke lag, schlüpfte hinein und wandte sich zur Tür.

Sie sollte die Jacke besser auf der anderen Seite aufhängen, an einem Haken an der Tür, ging ihr durch den Kopf. Dort, wo die Balkenhöhe eine aufrechte Haltung zuließ.

Ann verfolgte diesen Gedanken nicht weiter. Er war nicht wichtig. Sie war hier, auf Mallorca. Der Kreis begann sich zu schließen.

Entlang der Stufenkanten flammte Licht auf, als Ann den Bewegungsmelder erreichte. Ihr Verstand registrierte es mit gewohnter Schärfe. Sie bückte sich nach der Decke, die sie zuvor hatte fallen lassen, und nahm sie mit.

Im Hof war es kalt. Kurz überlegte Ann, dass es wohl besser wäre, ihre Schuhe anzuziehen, und ging barfuß weiter. Ein spitzer Stein bohrte sich in ihre Fußsohle, die nass wurde vom Tau.

Fest hüllte sich Ann dann in die Decke, setzte sich auf die Bank und zog die Knie hoch.

Von der Kälte einmal abgesehen, war das, was sich Anns Augen bot, eine jener Nächte, die von Dichtern gerne besungen wurden – voll des Zaubers und geeignet, selbst völlig Unromantische zum Schwärmen zu bringen. Eine Nacht im Süden, mit Sternen und Palmen, deren Magie man sich nur schwer entziehen konnte.

Genau das aber tat Ann. Sie betrachtete die Sterne in vollkommener Gleichgültigkeit, selbst der Mond, der alles aufbot an geheimnisvoller Schönheit, konnte nicht bis in ihre Seele vordringen.

Lange verharrte sie reglos. Ignorierte die Kälte, die sich ihrer bemächtigte.

Plötzlich durchbrach ein Geräusch die Stille. Es hörte sich dumpf an, gedämmt, einem Husten ähnlich – verstummte dann. Und kam gleich darauf wieder.

Ann hob den Kopf und lauschte. Hielt unbewusst den Atem an, als wäre es ein ganz besonderer Klang, dem zuzuhören man nicht versäumen durfte. Sie atmete mit im Takt von Husten und Pausen, bis das Geräusch irgendwann ganz verstummte und hinter jener Wand aus Steinen wieder Stille eintrat.

Plötzlich wurde Ann bewusst, dass sie hier nicht allein war. Zwischen all diesen Mauern lebte jemand, Menschen, die sie nicht kannte. Die Häuser grenzten unmittelbar aneinander. Waren bewohnt. Wenn auch die Mauern jeden Blick verhinderten, das Leben konnten sie nicht aussperren. Es war da. Verlangte Raum.

Was Mond und Sterne nicht geschafft hatten, gelang genau jetzt. Anns Aufmerksamkeit war geweckt. Zwar kannte sie keinen der Nachbarn, dennoch war da eine vage Erinnerung. Noch aus jener Zeit, als sie das Haus zu restaurieren beschlossen hatte. Ein Experiment gewissermaßen. Um ihre Theorie in der Praxis umzusetzen.

Damals hatte die Firma von Anns Vater, in der auch Ann und Wilfried tätig waren, die Errichtung einer Seniorenresidenz auf Mallorca betreut.

Anns Aufgabenbereich war dabei eher bescheiden zu nennen gewesen, trotz ihres abgeschlossenen Studiums. Sie zeichnete die Pläne, eine Arbeit, für die normalerweise ein Techniker ausreichte. Niemand hatte ihr mehr zugetraut, am allerwenigsten sie selbst.

Im Gegensatz zu Wilfried, der gleich nach ihrer Hochzeit zur wichtigsten Stütze von Anns Vaters geworden war. Früher war Ann das nicht sonderlich aufgefallen. Gewohnt, sich zu fügen, tat sie es auch während ihrer Ehe. Dabei war sie eine sehr gute Architektin.

Damals jedoch, auf Mallorca, war etwas anders geworden. Ann wollte arbeiten. Nicht nur repräsentieren, anwesend sein, sondern selbst etwas schaffen.

Mit dem Baugrundstück für die Residenz mussten vom Eigentümerkonsortium auch noch andere Liegenschaften erworben werden. Grundstücke, die keiner benötigte, die schnellstmöglich verkauft werden sollten. Diese Aufgabe hatte man Ann übertragen – und einem Immobilienmakler. Das Häuschen – das zu jener Zeit kaum als solches bezeichnet werden konnte – war auch darunter. Streng genommen war es nichts weiter als ein Haufen Steine, den es zu vermarkten galt. Lediglich die Außenmauern standen, das Dach war längst eingebrochen, die Balken vermorscht, die Fenster rahmenlos, und der Garten glich einer Müllhalde, auf der man alles deponierte, was nicht länger benötigt wurde.

Nur dem Höhenflug der Immobilienpreise war es zu verdanken, dass die Abbruchkosten den Wert des an Winzigkeit kaum noch zu unterbietenden Baugrundstückes nicht überstiegen.

Letztendlich hatte sich Ann mit den Eigentümern auf eine Art Anerkennungshonorar geeinigt. Wilfried murrte, ihr Vater hatte die Verrücktheit belächelt. Doch Ann zog ihren Plan durch.

Dunkel erinnerte Ann sich jetzt an jene Frau, die sie hier gesehen hatte, anlässlich eines Termins mit dem Baumeister.

Sie war schon älter. Ann schätzte sie auf siebzig. Mit unverhohlener Neugierde hatte sie vor ihrem Haus gestanden, zusammen mit weiteren Leuten aus dem Ort.

Dem Baumeister war die Aufgabe zugefallen, mit diesen Nachbarn zu reden, die Anns Idee offenbar für eine Verrücktheit hielten. Hatte deren Neugierde so weit befriedigt, dass sie sich wieder den eigenen Interessen zuwandten, nicht ohne Anns Tun argwöhnisch zu beobachten.

Es musste also diese Frau gewesen sein, die sie husten gehört hatte. Offenbar lebte sie noch.

Ann fühlte eine unerklärbare Aufregung. Als wäre da ein Geheimnis, das es zu entdecken galt. Gleichzeitig merkte sie, wie sie fror. Trotz Jacke und Decke.

Mühsam rappelte sie sich auf. Ihre Glieder hatten jede Elastizität verloren. So kurz der Weg über die kalten Steine bis zur Küche auch war, so sehr zitterte Ann, als sie endlich ins Innere des Hauses kam.

Sie erklomm die Stufen in die obere Etage und kroch unter die Decke. Lange Zeit konnte sie sich nicht erwärmen. Als sie es irgendwann doch tat, schlief sie ein. Bis sie ihr Traum abermals aufschreckte.

Danach lag sie im Bett und starrte an die Decke.

Sie wollte, dass es endlich aufhörte. Wünschte es sich, sehnte sich danach. Ihre Schuld – sie konnte sie nicht länger ertragen.

***

Als es endlich hell wurde, stand Ann auf. Immer noch fror sie, was nicht nur an der Temperatur lag.

Ihr Blick wanderte durch den Raum, nahm die weißen Balken wahr, die einen knappen Meter hoch an der Außenmauer auflagen, betrachtete das Fenster, dessen dunkel gebeizter Rahmen einen interessanten Kontrast zu dem weißen Mauerwerk und dem spiegelnd glänzenden Boden bildete.

Auch das Bettgestell – so schmal, dass darin höchstens zwei Verliebte Platz finden konnten – und die verschnörkelte Kommode neben der Tür waren aus demselben schimmernden Holz gefertigt.

Der einzige Schrank stand auf dem Treppenabsatz, auch er aus dunklem Holz, mit Türen aus einem Geflecht einander kreuzender Leisten, sodass die Luft ungehindert zirkulieren konnte.

Gegenüber befand sich ein weiterer Raum. Wenn überhaupt möglich, war er noch kleiner. So bot das Bett – bedeckt mit einer Bettdecke in diesem typisch mallorquinischen rot-weißen Muster – lediglich einer einzigen Person Platz. Und das auch nur, wenn sie zierlich war. Wie Pamela, die sogar vorgegeben hatte, gut darin zu schlafen.

„Wer soll denn auf dieser Bahre liegen?“, hatte hingegen Jonas die Nase gerümpft bei seinem einzigen Besuch. Gleich danach war er zu der Gastfamilie zurückgekehrt, zog es vor, bei Fremden zu leben, während Eltern und Großvater auf Mallorca arbeiteten.

Wie nur hatte sie dem jemals zustimmen können, fragte sich Ann. Warum war sie nicht bei Jonas geblieben?

Weil er mich nicht wollte, flüsterte etwas in Ann, sosehr sie auch versuchte, diese Stimme zum Schweigen zu bringen.

Uncool, fand Jonas die Aussicht, mit seiner Mutter zu leben. Cool – war für Vater und Großvater reserviert.

So hatte er die Lösung, während ihrer Abwesenheit bei einer Gastfamilie zu leben, widerstandslos akzeptiert. Hatte er sie nicht sogar selbst vorgeschlagen? Genauso, wie er dann später in das Internat zog?

Wie alt war er damals gewesen? Sieben? Ein kleiner Junge, der eine Gastfamilie seiner eigenen Mutter vorzog?

„Jens ist mein Freund. Wir werden es cool haben“, lautete sein Kommentar. Er hatte sich gefreut. Die Zeit genossen, kein einziges Mal geklagt. War er dort wirklich glücklich gewesen?

Was war sie für eine Mutter, dachte Ann.

Immer noch sah Ann auf das schmale Bett. Außer ihm befand sich nur noch ein winziger Sekretär in dem Raum. Eine Antiquität und entzückend anzusehen. Dort hatte jetzt Anns Laptop Platz gefunden. Doch Ann verschwendete keinen Gedanken daran.

Stattdessen ging sie die Stufen hinunter und öffnete die Tür neben der Küche. Das Bad hätte selbst auf einem Boot Platz gefunden. Schiffspläne waren es auch gewesen, von denen sie sich hatte inspirieren lassen.

Ein Vorhang diente als Spritzschutz und sofern man den Toilettendeckel als Sitz akzeptierte, musste man beim Zähneputzen nicht einmal stehen.

Unter dem kräftigen Wasserstrahl entkrampften sich Anns Muskeln ein wenig und sie blieb länger, als sie es gewöhnlich tat. Das Handtuch war flauschig und von der heizbaren Trockenstange angenehm warm.

Ann machte sich erst gar nicht die Mühe, nach Kleidung zu suchen. Der Pullover, den sie gestern getragen hatte, und die bequeme Hose taten es auch.

Gleich darauf betrat sie die Küche und füllte den Wasserkocher. Während sie wartete, starrte sie auf die Holztür mit den Glaseinsätzen, die zum Garten führte.

Ein Klicken ließ sie aufschrecken. Sie nahm einen Teebeutel und schüttete das Wasser darüber.

Mit dem Glas in der Hand kehrte Ann ins Zimmer zurück. Außer der Biedermeierbank gab es da noch den Holztisch und zwei Stühle mit hellen Hussen.

An der Wand hingen Bilder, verspielte Genreszenen, die vom Leben auf der Insel erzählten, einem Leben, wie es in früheren Zeiten gewesen sein mochte. Die verschnörkelten Rahmen waren vergoldet. Ebenso der des Spiegels gegenüber, der den Raum breiter erscheinen ließ, als er war.

Ann setzte sich auf den Stuhl und stellte das Teeglas ab, stützte die Arme auf die Platte und ließ den Kopf darauf sinken.

So blieb sie sitzen, merkte nicht, dass der Tee wieder kalt wurde, während die Zeit verstrich.

Als es an der Tür klopfte, reagierte sie nicht. Erst als jemand mit der Hand dagegen schlug, schreckte Ann hoch. Nur widerstrebend stand sie auf.

 

***

 

„Was wollen Sie denn?“, fragte Ann wenig höflich, während sie die Tür halb geöffnet hielt.

Der Mann war nicht allzu groß, überragte Ann, die nicht gerade Gardemaß besaß, kaum um einen halben Kopf. Er war feingliedrig und schlank. Das genaue Gegenteil von Wilfried, dessen hünenhaftes Äußeres an Helden denken ließ und in das Ann sich sofort verliebt hatte.

Dennoch konnte sie den Mann vor der Tür nicht als unattraktiv bezeichnen. Unter dem Fahrraddress zeichneten sich Muskeln ab, die verrieten, dass er die Kleidung nicht zufällig trug.

Ann hielt ihn für dreißig, etwas älter vielleicht.

Er hatte braune Augen und dunkle, kurze Haare. Sein Gehabe wirkte sanft und eher zurückhaltend. Da war nichts, was Ann normalerweise zweimal hätte hinsehen lassen. Und doch konnte sie den Blick nicht wenden.

Buenos días“, sagte er und lächelte, zumindest schloss Ann das aus den nach oben gezogenen Mundwinkeln. Die Stimme war voll. Klang harmonisch und passte zu dem sanften Eindruck. In den Augen, die Ann musterten, war das Lächeln allerdings nicht bemerkbar.

Erst jetzt registrierte Ann, dass er etwas hielt – ein mit einem karierten Tuch bedecktes Gefäß.

„Ich wohne nebenan“, sagte er in fließendem Deutsch und deutete mit dem Kopf zur Seite. „Während der Arbeitswoche lebe ich bei meiner Tante, fahre nur an den Wochenenden heim. Darf ich hereinkommen? Ich heiße übrigens Enric.“

Er wartete erst keine Antwort ab, ging an Ann vorbei, die ihn ins Haus ließ, ohne über das Warum nachzudenken.

Zielstrebig ging er zur Küche und stellte das Gefäß dort ab.

„Einen Gruß von meiner Tante und willkommen in der Nachbarschaft. Das hier sind Empanadas mit Spinat, Rosinen und Fleisch, wir dachten, Sie möchten vielleicht kosten. Keiner macht Empanadas so gut wie meine Tante. Die Pasteten sind noch warm“, sagte er und zog das Tuch fort.

„Ich habe schon gegessen“, erwiderte Ann. „Trotzdem danke.“

Sein Blick strich über die fast schon sterile Küchenzeile, als suche er dort nach Bestätigung. Dabei lächelte er wirklich. Es veränderte ihn, machte seine Züge überraschenderweise männlicher, wie Ann feststellte.

„Wir haben uns schon gefragt, ob wir Sie hier jemals zu Gesicht bekommen. Bleiben Sie länger?“, fragte er und musterte sie.

„Nein.“

„Schön, dass Sie gekommen sind.“

„Wieso?“, fragte Ann rüde. „Sie kennen mich gar nicht.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Ich kenne Ihr Haus. Folglich auch Ihren Geschmack. Und ich weiß, was Sie aus diesem Gemäuer geschaffen haben. Auch wenn ich nicht ganz verstehe, weshalb. Vielleicht erzählen Sie es mir irgendwann, es würde mich interessieren. Leider kenne ich die Räume in der oberen Etage noch nicht. Was dagegen, wenn ich sie mir ansehe?“

„Oben ist mein Schlafzimmer.“

„Würde es Sie stören, wenn ich hinaufgehe?“

„Das würde es“, antwortete Ann. „Sie können sich aber das Zimmer auf der rechten Seite ansehen. Es ist etwas kleiner und als Arbeits- und Gästeraum konzipiert. Oder als Kinderzimmer, falls man ein solches benötigt.“

„Werden Sie das Haus denn verkaufen?“

Ann zuckte die Schultern, doch da erklomm er bereits die Stufen.

Was machte sie hier eigentlich, fragte sich Ann.

Es dauerte, bis Enric wiederkam.

„Sie heizen mit Infrarot“, sagte er. „Damit haben Sie wohl das schlimmste Problem gelöst. Die ständige Schimmelbildung. Meinen Sie, einzelne Heizkörper könnten auch etwas helfen? Gegen die Feuchtigkeit?“

„Beschäftigen Sie sich denn mit Sanierungen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich überlege bloß, wie man das Haus meiner Tante trockener bekommen könnte.“

„Infrarot ist in jedem Fall eine Option. Allerdings würde ich empfehlen, in die Substanz einzugreifen, wenn man schon saniert.“

„Das wird kaum möglich sein.“

„Ihre Tante müsste nur kurzfristig ausziehen – falls Sie eine Heizung möchten, wie ich sie habe. Ich nenne Ihnen gerne die Firmen, die für mich gearbeitet haben.“

„Ich fürchte, wir werden uns mit etwas bescheideneren Lösungen zufriedengeben müssen“, sagte er. „Aber trotzdem danke.“

Plötzlich wusste Ann nicht weiter. Sein Blick blieb unverändert freundlich. Dennoch beschlich sie das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.

„Was, sagten Sie, ist in diesen Teigtaschen?“, fragte sie hastig. Sein Blick machte sie plötzlich nervös. Sie nahm eine Pastete und biss hinein. Dabei erinnerte sie sich, dass sie seit dem Imbiss im Flugzeug nichts mehr gegessen hatte.

Die Pastete schmeckte salzig und süßlich zugleich, der Teig war mürb, die Füllung cremig.

„Mmh“, entschlüpfte es Ann. Dabei konnte sie den Blick von seinen Augen nicht abwenden.

„Dass es Ihnen schmeckt, wird meine Tante freuen“, lächelte er. „Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie jederzeit willkommen sind, falls Sie etwas brauchen. Oder einfach reden wollen. Allerdings spricht Rosa kein Deutsch, aber Sie werden sich schon verständigen. Irgendwie geht es immer, wenn man will. Meine Tante könnte etwas Unterhaltung gebrauchen. Sie lebt schon lange allein.“

„Aber Sie wohnen doch bei ihr.“

Er warf ihr einen Blick zu. „Ich habe nur wenig Zeit. Mein Tagesablauf ist ziemlich verplant.“

„Dann sollten Sie vielleicht auf das eine oder andere verzichten und eine Viertelstunde für die alte Dame einplanen“, erwiderte Ann. „Ich fürchte, ich bin keine geeignete Betreuerin.“

„Wir beide sind einander so eng verbunden, wie es möglich ist“, antwortete er in diesem ruhigen Tonfall, den Ann bereits kannte und hinter dem er offensichtlich jegliche Emotion verbarg. „Sie braucht auch keine Betreuung. Ein Gespräch täte ihr dennoch gut. Mit jemandem, den sie nicht ihr ganzes Leben lang kennt, wäre es eine Abwechslung.“

Wieder hatte Ann das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.

„Gehen Sie gerne in der Natur spazieren?“, fragte er übergangslos.

„Ja“, sagte Ann. „Aber ich habe kaum Zeit dazu.“

„Ich hätte Sie mitgenommen. Kennen Sie schon unsere ehemalige Eisenbahntrasse? Man hat sie zu einem Wanderweg umfunktioniert, jetzt können Sie dort entlanggehen. Von Manacor bis nach Artà. Oder Rad fahren. Fahren Sie Rad?“

Ann schüttelte den Kopf.

„Sie sollten es versuchen. Man bekommt einen freien Kopf davon. Oft ändert sich die Sicht der Dinge dadurch.“

„Danke für die Pasteten“, wechselte Ann das Thema. „Bitte richten Sie das Ihrer Tante aus.“

„Mache ich gern, adiós. Und auf bald, sagte er, bevor er das Haus verließ.

 

 

Kapitel 2

 

Das Haus wirkte plötzlich anders, nachdem sich ein Fremder darin aufgehalten hatte, stellte Ann verwundert fest und verwahrte die restlichen Pasteten in einer Plastikdose.

Da war dieses Gefühl, nicht länger allein zu sein. Doch was sollte sie mit einer Nachbarin bereden? Warum kümmerte es jemanden, ob sie hier war? Überhaupt gingen diese Menschen sie nichts an.

Weshalb lebte ein erwachsener Mann bei seiner Tante, überlegte Ann weiter, während sie an der nächsten Pastete kaute. Das Haus nebenan war ebenso winzig wie ihres. Alle Häuser in der Zeile waren so konstruiert.

Ann ging auf und ab. Wanderte zur Eingangstür und kehrte in die Küche zurück.

Da waren sie wieder. Die Gedanken, vor denen sie fortlaufen wollte. Dann klingelte ihr Handy.

Sie müsste sich melden, dachte Ann. Ihrem Vater sagen … Nur was? Dass alles in Ordnung sei?

Sie ließ das Handy weiterklingeln, hörte das Piepsen der eingegangenen Nachricht.

Wollte sie das denn wirklich? Ob sie ihrem Vater fehlen würde? Und Jonas?

Beim Gedanken an den Sohn hämmerte Anns Herz, das Blut rauschte in ihren Ohren.

Bring es zu Ende, raunte eine Stimme. Jonas braucht dich nicht. Er hat seinen Großvater. Keiner braucht dich. Du bist überflüssig.

Ann setzte sich auf die Bank und starrte vor sich hin. Die Aufregung hatte sich gelegt, nichts blieb außer Leere. Kein vernünftiger Gedanke war mehr übrig.

Warum, war die einzige Frage, die sie beschäftigte.

Warum war Wilfried an jenem Tag zu dem entlegenen Hotel gekommen?

Warum war sie selbst dorthin gefahren? Mit Hubert.

Warum hatte es geregnet?

War es ein Fahrfehler gewesen? Oder gar Absicht?

Ich danke dem Himmel dafür, dass du nicht mit Wilfried zusammen im Wagen warst. Oder Jonas. Es musste einmal so kommen. Rücksichtslos, wie Wilfried immer gefahren ist.

Blind vor Tränen hatte Anns Schwiegermutter die Worte gestammelt. Zwei Männer mussten sie stützen. Das war bei der Beerdigung gewesen, auf dem Friedhof.

Hubert aber stand stumm da. Scheinbar erschüttert über den Tod des besten Freundes. Sicherlich hatten das alle gedacht.

Wie nur habe ich so etwas tun können?, fragte sich Ann.

Im Nachhinein erschien es ihr völlig ausgeschlossen. Sie hatte niemals Affären gehabt. Nur dieses einzige Mal.

Und Wilfried? Wie viele Affären waren es gewesen, während ihrer Ehe? Ann wusste es nicht. Es war nicht mehr wichtig.

Sie allein war schuld. Wie sollte sie weiterleben? Jemals wieder lachen?

Das war unmöglich.

Seit Wilfrieds Tod sprach Jonas kaum noch mit ihr. Konnte es nicht erwarten, nach den Wochenenden ins Internat gebracht zu werden.

War es nicht ihre gerechte Strafe, dass Jonas nichts von ihr wissen wollte?

In letzter Zeit hatte er immer öfter gebeten, selbst an den Wochenenden nicht nach Hause zu müssen.

War er daheim, wich er Ann aus, verkroch sich in sein Zimmer. Sobald sie versuchte, ihn anzufassen, wehrte er sie ab. Außer, wenn der Großvater anwesend war. In dessen Gegenwart verhielt er sich passiv, ließ den Kopf hängen und mied Anns Blick. Da hätte Ann ihn sogar in die Arme schließen dürfen. Sie wusste, er würde es zulassen – und versuchte es gerade deshalb nicht.

Sie hatte Jonas verloren. Hatte ihm obendrein den Vater genommen. Ahnte er es? Kinder waren sensibel in solchen Dingen.

Nein, Jonas war bei seinem Großvater bestens aufgehoben. Das Band zwischen den beiden war stark. Stärker als jenes zur Mutter.

Eine Stunde später griff Ann nach ihrer Jacke, verließ das Haus und setzte sich hinters Steuer.

Sie erinnerte sich genau an den Weg zum Naturschutzgebiet, dessen weit ins Meer hineinragende Landzunge die eine Badebucht von der anderen trennte. Sie war oft dort gewesen. Damals.

Das unberührte Stück Natur hatte sie begeistert.

Möglich, dass sie das Häuschen auch deshalb hatte erstehen wollen.

Stundenlang war sie durch die Dünen gestreift. Obwohl es eigentlich verboten war, die vorgegebenen Pfade zu verlassen, hatte sie es getan. Trotz der Seile, die die Touristen hindern sollten, noch mehr Schaden anzurichten, wenn sie gedankenlos alles zertrampelten und ihren Müll hinterließen.

Ann konnte sich erinnern, dass sie einmal sogar Pilze gefunden hatte, Maronenröhrlinge, die sie dann doch nicht gegessen hatte.

Aber der Geruch hatte sich ihr eingeprägt. Ein Gemisch aus Nadelgehölz, Fisch und Seetang. Dazu noch die Aromen von Kräutern, allen voran wilder Rosmarin und Thymian. Und jener unverwechselbare Duft von Zistrosen, der die Luft erfüllte und den Ann seither untrennbar mit der Insel verknüpfte.

Sie hatte es geliebt. War umhergestreift, allein, ohne einen Menschen zu treffen. Hatte Zeit und Raum vergessen und nachgedacht. Im Nachhinein konnte sie sich nicht einmal erinnern, worüber sie grübelte, wusste nur, dass ihr danach leichter war.

„Und weshalb kommst du schon wieder nicht zum Golfplatz?“, war Wilfried ärgerlich gewesen. „Es fällt bereits auf, dass du dich absonderst.“

Hatte sie das getan? Sich abgesondert? Steckte ihre Ehe damals schon in einer Sackgasse? Ohne dass sie es merkte?

Wann hatte es begonnen?

Sie waren doch glücklich gewesen, zusammen – oder nicht? Warum nur war sie nicht bei Jonas geblieben, fragte sich Ann einmal mehr und wusste bereits die Antwort.

Weil ihr Sohn genau damals angefangen hatte, sich zurückzuziehen. Was nur hatte sie falsch gemacht?

Ann erreichte ihr Ziel, stellte den Wagen am Straßenrand ab und schlug den schmalen Pfad ein, der in die Dünenlandschaft führte. Ging dahin mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, ohne sich umzusehen.

 

***

 

„Ob sie vielleicht krank ist?“, überlegte Doña Rosa. „Kein Mensch ist so dünn und blass. Man kann die Adern unter der Haut sehen. Wenn sie sich bewegt, hat man das Gefühl, ein Geist schwebt vorbei. Jeder Windhauch weht diese Frau fort.“

Sie schnitt ein Stück des großzügig mit Zucker bestreuten Gebäcks ab, das in seinem Pappkarton auf dem Tisch des Innenhofs stand, und warf dabei ihrem Gegenüber einen fragenden Blick zu.

Obwohl Innenhof vielleicht eine etwas übertriebene Bezeichnung war. Theoretisch zwar vom selben Ausmaß wie Anns Patio war die Fläche für Tisch und Stühle nicht größer als die eines Bettlakens.

Den restlichen Platz teilten sich ein verfallener Hühnerstall mit altem Hausrat, eine Wäscheleine samt Trockengestell sowie ein Anbau neueren Datums. Er war aus grauen Schalsteinen errichtet und mit Kunststoff gedeckt. Durch das offen stehende Fenster konnte man eine Dusche erkennen.

Pepe nuckelte an seiner Pfeife, stopfte sie dann umständlich, bevor er sie neu zu entflammen versuchte.

„Iss“, sagte Rosa und schob den Karton näher.

„Hm“, war alles, was er von sich gab.

„In den letzten Jahren war die Señora Neumann nur ein einziges Mal hier. Zusammen mit einer zweiten Frau. Sie muss aber verheiratet sein. Carsten sagt, die Zahlungen für die Betreuung kämen von einem Wilfried Neumann. Wieso hat noch keiner den Mann zu Gesicht bekommen?“

Pepe legte die Pfeife umständlich auf dem Aschenbecher ab und griff nach dem Kuchen. Als er das Stück mit den Fingern abriss und in den Mund schob, konnte man die fehlenden Zähne sehen. Während er weiterkaute, rieselte Zucker in seinen Bart.

„Vielleicht der Vater“, nuschelte er dann, zog ein Tuch aus der Tasche seiner ausgebeulten Stoffhose, wischte sich Finger und Mund ab, bevor er den Zucker von der Hose klopfte.

„Der heißt anders“, sagte Rosa. „Diese deutschen Frauen nehmen die Nachnamen ihrer Ehemänner an. Nicht wie bei uns. Wir behalten ja unsere eigenen auch nach der Hochzeit.“

Pepe hielt den Kopf gesenkt und blieb stumm. Er schien eingenickt zu sein.

Das hinderte Doña Rosa nicht, weiterzureden.

„Ich habe Enric hinübergeschickt. Es stimmt etwas nicht. Enric sagt, dass die Frau nichts isst. Außerdem habe ich es in den Karten gesehen.“

Rosa hob den Blick. Ein grummelndes Geräusch war alles, was Pepe von sich gab, gefolgt von einem leisen Pfeifen, wenn er die Luft durch den Mund wieder ausstieß.

„Die Karten lügen nicht“, murmelte Rosa. „Sie haben niemals gelogen.“

 

***

 

Enric überlegte erst gar nicht, ob er Rad fahren wollte, ebenso wenig, wie er darüber nachdachte, ob er Lust auf Lauftraining hatte.

Die sportliche Betätigung zählte zu seinem Tagesprogramm, wie bei anderen Leuten das Zähneputzen oder die morgendliche Tasse Kaffee.

Vor vielen Jahren – genau genommen ab jenem Moment, als er begriff, worin der Unterschied zwischen ihm und anderen Menschen lag – hatte er den Kampf, der sich aus diesem Wissen ergeben musste, akzeptiert und seither jeden einzelnen Tag danach gehandelt.

Damals schon hatte er beschlossen, dieser Krankheit jegliches Recht zu verwehren, sein Leben zu beherrschen. Er selbst entschied darüber und er würde darin fortfahren. Jeden Tag. Bis an sein Ende. Das hatte er sich vorgenommen und danach lebte er.

Wenn er diszipliniert war, dann deshalb, weil Disziplin für ihn lebensnotwendig war.

Er war überzeugt, seinen Kampf zu gewinnen. Darum fuhr er Rad. Darum lief er. Darum stand er frühmorgens auf, egal ob Sommer oder Winter. Deshalb auch beachtete er peinlichst genau die Ruhephasen, die sein Körper dringend benötigte, um Kraft zu sammeln, nicht zuletzt für weiteres Training.

Enrics Stundenplan, in dem sein Job, den er in einer Außenstelle des Rathauses ausübte, ebenso einen fixen Platz innehatte wie die Besuche beim Physiotherapeuten, ließ ihm keinen Spielraum für spontane Entscheidungen. Außer vielleicht in jenen wenigen Momenten, die für Spontaneität vorgesehen waren.

Was für andere Menschen unvorstellbar gewesen wäre, war seine Normalität, gab ihm Halt. Was andere als unerträgliche Belastung oder schwere Einschränkung empfunden hätten, bedeutete für ihn Lebensqualität.

Wie sonst hätte er sichergehen können, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Oder Schuldgefühle – wenn auch nur sich selbst gegenüber.

Wann immer Enric nachdachte, kam er zu dem Schluss, Glück zu haben, auf dieser Insel geboren worden zu sein. Nicht nur, weil er selbst im Winter am Meer entlanglaufen konnte, sondern auch deshalb, weil Großfamilien hier keine Seltenheit waren.

Wo sonst hatte man zehn Cousins? Oder fünf Onkel – Ehepartner nicht eingerechnet – wie in seiner Familie?

Nicht dass er alle ständig traf. Familienfeiern beschränkten sich auf Hochzeiten und Beerdigungen, seltener auf Taufen und Geburtstage.

Es waren wirtschaftliche Gründe, die Enric dankbar sein ließen, eine so zahlreiche Verwandtschaft zu haben. Denn er brauchte Unterstützung in seinem täglichen Kampf.

Längst hatte er es sich abgewöhnt, mehr als oberflächlichen Dank zu empfinden. Es hätte ihn gehindert, reinen Herzens anzunehmen, was man ihm ohnehin freudig gab. Mehr noch: Es von sich aus zu sagen, sobald er Hilfe benötigte.

Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, jede Hilfestellung anzunehmen, sogar von Fremden. Und zunehmend merkte er, dass er dadurch selbst öfters in die Rolle des Gebenden schlüpfen, etwas zurückgeben konnte. Menschen Freude machte, wenn sie ihm helfen durften. Selbst wenn diese Freude zum Teil aus der Dankbarkeit bestand, von einem Schicksal wie dem seinen verschont geblieben zu sein.

Enric betrachtete seine Krankheit nicht als Strafe. Vielmehr sah er sie als Herausforderung an, der er sich stets aufs Neue stellen musste. Dennoch war er weit davon entfernt, sein Schicksal in Demut anzunehmen.

Opfermut war nichts, was ihm lag. Gerne hätte er gehört, dass es der Forschung endlich gelungen war, eine Möglichkeit der Heilung zu finden – und las sämtliche Artikel, derer er habhaft werden konnte. Ließ sich aber nicht entmutigen, wenn die Erfolge langsamer vonstattengingen als gehofft und freute sich umso mehr, wenn es ihm selbst gelang, einen – wenn auch noch so kleinen – Etappensieg zu erzielen.

Während sich Enric also jetzt auf sein Rad schwang und losfuhr, dachte er über den Besuch im Nebenhaus nach.

Die Frau war auffallend hübsch. Nicht allzu groß und sehr zierlich. Fast schon zerbrechlich. Die weizenblonden Haare, der sanft geschwungene Mund, die blauen Augen – ihr fein geschnittenes Gesicht hatte ihn beeindruckt.

Schon länger war er neugierig gewesen, wie sie wohl aussehen mochte, die Nachbarin. Fast so lange, wie er bei seiner Tante wohnte.

Auch das war eine dieser Hilfen, die er gern in Anspruch genommen hatte. Verkürzte sie seinen Arbeitsweg doch erheblich und ermöglichte ihm innerhalb von Minuten die Via Verde – wie man die als Rad- und Wanderweg ausgebaute Bahntrasse nannte – zu erreichen. Dort konnte er entlangfahren, solange er wollte, ohne auf den Autoverkehr achten zu müssen.

Enric wusste, dass es für die Tante, die immer gewohnt war, allein zu sein, eine große Umstellung bedeutete – auf so engem Raum mit einem erwachsenen Mann zu leben. Was naturgemäß die Aufgabe vieler lieb gewordener Angewohnheiten mit sich brachte.

Doch hatte sich seine Anwesenheit letztendlich als Segen für die Tante erwiesen. War sie vorher einsam gewesen, eine alte Frau, deren Leben in Ereignislosigkeit verlief, hatte sie plötzlich eine Aufgabe.

Der ihr eher fremde Neffe, dessen Schicksal sie mehr aus Erzählungen kannte, wurde zu ihrem Lebensinhalt. Stillschweigend und ohne ihn zu vereinnahmen, sorgte Rosa fortan dafür, dass Enric seinen Tagesplan erfüllen konnte, machte ihm das Leben so angenehm wie möglich.

Sie kochte und sie putzte. Vor allem aber ließ sie ihn sein, wie er wollte. Stellte sich schlafend, wenn er frühmorgens aufstand, hustete, versuchte, sie möglichst nicht zu stören. Was allein schon aufgrund der Größe des Hauses unmöglich war.

Inzwischen hatte sie sich sogar an den Husten gewöhnt. Und an vier von fünf Tagen war sie wach, bevor Enric aufstand, schlief beruhigt wieder ein, sobald sie die ersten Geräusche des mittlerweile geliebten Neffen hörte.

Enric fuhr jetzt weiter mit seinem Rad, die Straße entlang, diesmal aber in Richtung des Meeres. Warum er das ausgerechnet heute tat und nicht, wie vorgehabt, zur Via Verde fuhr, wusste er nicht.

Wie so oft im Leben war es mehr eine Eingebung, der er nachgab. Da dieser Entschluss aber keinerlei Einfluss auf die Qualität des Trainings hatte, ließ er die Spontaneität einfach zu.

Als er wenig später auf der Westseite der Halbinsel entlangfuhr, sah er sie.

Ann hielt den Kopf gesenkt, die Hände vor der Brust verschlungen, die Schultern hochgezogen. Vornübergebeugt ging sie dahin. Alles an ihr wirkte verkrampft.

Hola“, rief Enric. Sie reagierte nicht. Als er sie erreichte, nur noch getrennt durch die Breite der Fahrrinne, die es den Autos ermöglichte, zu dem beliebten Ausflugslokal hinaufzufahren, sprach Enric sie nochmals an.

Wieder reagierte Ann nicht, folgte dem schmalen, ausgetretenen Pfad in Richtung der Klippen und drehte sich nicht um.

Kurz zögerte Enric. Dann zuckte er die Schultern, stieg vom Rad und folgte ihr.

 

***

 

Ann dachte nichts mehr. Wie von unsichtbarer Hand geführt, ging sie ihren Weg. Sie war aufgewühlt, registrierte kaum, wo sie sich befand, und wusste es doch genau. Musste nicht erst hinsehen, wohin sie ging, um den richtigen Weg zu finden.

Deutlich nahm sie den Duft wahr. Lavendel. Rosmarin. Überlaut drangen selbst die leisesten Geräusche an ihr Ohr. Das Rascheln einer grün glänzenden Eidechse. Der helle Schlag eines Steinchens gegen ein anderes – beiseite gestoßen von ihrem Schuh. Ein Vogel, der seinen Jubel in den frühlingswarmen Tag hinauszwitscherte.

Wie einen fernen Ruf hörte Ann das Rauschen, das von den Wellen kam, die gegen die steil abfallenden Felswände schlugen, dort, wo vor langer Zeit ein Steinbruch gewesen war, den sich die Natur inzwischen zurückerobert hatte.

Das Tosen der hoch aufspritzenden Gischt, wenn sie an den Felsen aufprallte, wo Bäume und Sträucher ihre Wurzeln in jede noch so kleine Spalte bohrten, in der sich nur ein Krümelchen Erde halten konnte.

Lange bevor das Geräusch der Brandung ihr Ohr erreichte, durchdrang es Anns Körper. Zog sie an wie ein Magnet und ließ ihr keine Möglichkeit, sich dem Ruf zu entziehen.

Da war auch schon der Fahrstreifen, geschottert und holprig, über den die Autos rollten. Zum Castel, von dem aus man einen atemberaubenden Rundblick hatte. Deutlich sichtbar waren die Spuren der Esel, auf denen die Kinder reiten konnten. Und die von Pferden.

Ann überquerte die Fahrrinne, ging weiter, immer nach Westen. Wohin das Rauschen sie zog. Nichts hörte sie mehr, außer dem Wüten der Wellen, die ihren Namen zu rufen schienen.

Dabei sah sie Wilfried vor sich, bei ihrer ersten Begegnung. Spürte wieder ihr wild klopfendes Herz, voll Sehnsucht, voll Erregung.

Ann hatte sich auf den ersten Blick in diesen Mann verliebt, damals, als sie ihren Vater zu jener Tagung begleitet hatte.

Wilfried hatte sie zum Tanz aufgefordert, am Abschlussabend.

Sonst hatte Ann diese Gesellschaften nur widerwillig ertragen. War stets froh, wenn sie sich zurückziehen konnte. Ganz anders als der Vater, der Geselligkeit liebte, unter den Letzten war, die kein Ende finden konnten.

An jenem Abend war alles anders gewesen.

Nur mit Mühe hatte Ann ein Zittern verbergen können, als Wilfried den Arm um sie legte. Hatte er es gespürt?

Der Duft seines Rasierwassers, die Wärme der Finger auf ihrem Rücken, die Hand, die ihre umschloss – all das ließ ihr Herz schneller schlagen.

Ann spürte seine muskulösen Beine an den ihren, während er sie im Takt des Walzers drehte. Kaum, dass sie einmal aufzublicken wagte, wusste sie doch um die Intensität seines Blicks, der auf sie gerichtet war und dem sie nichts entgegenzusetzen hatte.

Er war groß. Ein Turm von einem Mann, der Ann deutlich überragte. Und stark. Sie kam sich winzig vor neben ihm, wie ein Vogel, den er zwischen seinen schützenden Händen hielt.

Sie hatte sich damals gewünscht, die Nacht würde niemals ein Ende nehmen. Wäre am liebsten für immer geblieben.

Sie musste nachher den ganzen Wasservorrat des Hotels leer getrunken haben, dachte sie, so durstig, wie sie war, brennend vor innerer Hitze, die nicht nachlassen wollte.

Unter dem Tisch hatte Wilfried nach ihrer Hand gefasst, die sie ihm nur allzu willig überließ.

Später dann, längst im Bett, zu aufgewühlt, um schlafen zu können, hatte Ann immer noch den Druck seiner Lippen gespürt. Auf ihrem Handrücken. Doch das Ziehen zwischen ihren Schenkeln – es hätte nicht stärker sein können, wenn er statt der Hand ihre intimste Stelle geküsst hätte.

Ann hielt inne und hob den Kopf. Doch sie nahm ihr Umfeld nicht wahr. Sah nur weiter das Gesicht ihres Mannes, wie es sich ihr an jenem Abend eingeprägt hatte.

Wenige Monate später schon hatten sie geheiratet.

Sie hatte nicht länger warten können. Wollte ihn unbedingt. Konnte nicht verzichten auf den Mann, nach dem sie sich dermaßen verzehrte.

Warum hatte Wilfried darauf bestanden, bis zur Hochzeitsnacht zu warten? Ann wusste es nicht. Erinnerte sich nur, dass er ihre Versuche, endlich mit ihm zu schlafen, sanft abgewehrt hatte.

Damals fürchtete Ann, dass es an ihr lag, sie ihn nicht genügend reizte. Hatte sich deprimiert gefühlt. Nicht imstande, einen solchen Mann zu fesseln.

Jahre später noch hatte Ann gegrübelt, ob Wilfried ausreichend Befriedigung fand. Mit ihr. Im Bett. Oder ob er fremdging. Weil sie versagte. Es ihre Schuld war, dass sie nur wenig dabei empfand.

Dass Sex anders sein konnte, wusste Ann erst seit Hubert. Seit jener verhängnisvollen Nacht, die sie inzwischen so grenzenlos bereute.

Hubert hatte ihr gezeigt, was Wilfried ihr nie gab. Das Gefühl, eine begehrenswerte Frau zu sein.

Nicht nur jemand, der funktionierte, um den man sich nicht bemühen musste.

Ann war stets dort zur Stelle, wo man sie hinbeorderte. War Ehefrau und Mutter. Doch keiner brauchte sie wirklich. Nicht ihr Ehemann, nicht ihr Vater. Ja nicht einmal ihr Sohn.

Deutlich spürte Ann den Stich in ihrer Brust, als sie an Jonas dachte, und ein Schleier legte sich über ihre Augen.

War das der Grund gewesen, warum sie sich mit Hubert eingelassen hatte, überlegte sie. Sie war nicht einmal verliebt gewesen. Warum nur hatte sie es getan?

Wie ferngesteuert setzte sie ihren Weg fort. Ging dem Ziel entgegen, das eine innere Stimme vorschrieb.

Zur damaligen Zeit hatte Huberts Frau die Scheidung eingereicht. Sie hätte einen anderen, hieß es.

Hubert litt und Ann empfand Mitleid. Nur Wilfried blieb seltsam unberührt vom Kummer des Freundes, der seit Jahren auch sein Geschäftspartner war. Sie ergänzten einander perfekt, hörte man allseits.

Hubert war der Ruhigere, der hinter den Kulissen agierte. Wilfried der Schillernde, der alle in seinen Bann zog.

Sogar Anns Vater nahm er für sich ein, der sonst nicht leicht zu beeindrucken war. Bei Wilfried machte er eine Ausnahme, überschrieb dem Schwiegersohn bei der Hochzeit schon einen Anteil am Firmenvermögen. Denselben, den auch Ann erhielt.

Anschließend setzte sich Wilfried mit ganzer Kraft für seinen neuen Wirkungsbereich ein, während dem Unternehmen, das er mit Hubert geführt hatte, fortan der Antrieb fehlte. Was eine Abwärtsspirale der Wirtschaftsdaten nach sich zog.

Was hatte Wilfried damals empfunden, als er den Freund im Stich ließ, dachte er überhaupt darüber nach? Irgendwann kaufte er Hubert seinen Anteil ab, zufälligerweise zeitgleich mit dessen Scheidung, brachte das günstig erworbene Unternehmen in die Firma des Schwiegervaters ein.

Ann hielt inne, als ihr Fuß den Stein dicht am Rande des Abhangs berührte. Nahm jetzt wieder ihre Umgebung wahr.

Das hier war es, das Plateau oberhalb der Felsen. Da stand auch jene Pinie, die ihre Äste ausbreitete, weit über den Rand hinaus, über die Felsen, die steil abfielen, zu den steinernen Platten, die das Meer schäumend umspülte.

Ann blickte in den Abgrund und erschauerte.

Wer hier unachtsam war … ausglitt …

Vorsichtig setzte sie einen weiteren Schritt nach vorne. Den Blick starr auf den Abgrund gerichtet, machte sie noch einen …

 

***

 

Hatte sich Enric zunächst über Anns seltsames Verhalten gewundert, trieb ihn längst eine Portion Neugierde an, ihr weiter zu folgen. Anfangs hatte er einen größeren Abstand gehalten, schnell aber bemerkt, dass Ann ihre Umgebung gar nicht wahrnahm.

Im Geiste ging er die Möglichkeiten durch, die ein solches Verhalten bewirkten.

Drogen fielen ihm ein. Doch die Frau, die er eben erst kennengelernt hatte, machte nicht den Eindruck einer Süchtigen. Sie wirkte klar, wenn auch von einer Distanziertheit, die Enric irritierte.

Doch zusammen mit ihrem jetzigen Verhalten machte diese Gleichgültigkeit plötzlich Sinn. So reagierten Menschen in Ausnahmesituationen, die ihr Umfeld unter dem emotionalen Druck einfach ausblendeten.

Er beschleunigte seinen Schritt und verringerte den Abstand. Was hatte Ann vor? Wo wollte sie hin?

Inzwischen folgte er ihr in Rufweite. Das Fahrrad über den staubigen Weg schiebend, ging er nur wenige Meter hinter ihr her. Längst hätte sie ihn wahrnehmen müssen. Doch Ann hörte und sah offenbar nichts.

Dann bog sie unvermutet ab. Nahm den schmalen Pfad bergan, schlängelte sich zwischen dem Gestrüpp durch, das dort wucherte.

Enric zögerte kurz, warf seinem Rad einen besorgten Blick zu, bevor er es zwischen die Sträucher schob, um es vor fremden Blicken zu schützen.

Anschließend folgte er Ann, die ein schnelleres Tempo einschlug.

Als Enric sie einholte, war sie bei der Pinie angelangt, die auf der Kuppe des Hügels neben dem kleinen Felsvorsprung wuchs, ihre mächtige Krone weithin sichtbar.

Enric wollte Ann rufen, sah, wie sie einen Schritt auf den Abhang zumachte und sprang vor. Riss sie zurück. Weg von der Felskante, an der es kein Weiter mehr gab.

Ann schrie auf, schlug um sich, sodass Enric ihre Hände auf den Rücken bog.

„Ich bin es. Enric. Erkennen Sie mich nicht? Ihr Nachbar.“

Sie hielt inne und starrte ihn an. Nur langsam schien sie ihn wahrzunehmen. Ihr Mund stand offen, als würde es ihr Schwierigkeiten bereiten, Luft zu bekommen.

Da sie sich nicht mehr rührte, ließ Enric ihre Arme los. Ann sprach nicht und bewegte sich auch nicht.

„Lassen Sie uns zurückgehen. Es ist nicht ungefährlich hier, wenn man sich nicht auskennt“, sagte er.

Da hob sie den Kopf. Tränen glänzten in ihren Augen.

„Warum haben Sie das getan?“, rief sie. Die Verzweiflung war ihr deutlich anzusehen. „Warum konnten Sie mich nicht in Ruhe lassen? Warum nur mussten Sie herkommen?“

Enric hielt inne. Ihre Worte schockierten ihn, auch wenn er Ähnliches bereits vermutet hatte.

Ohne zu überlegen, fasste er nach Anns Hand, die er schützend umschloss. Weit aufgerissen waren die Augen in ihrem bleichen Gesicht.

„Weil es nichts auf der Welt gibt, das kostbarer ist als unser Leben“, sagte er.

„Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie da reden“, murmelte Ann und versuchte, ihre Hand zu befreien.

„Doch. Glauben Sie mir. Das weiß ich genau.“

Plötzlich sackte sie zusammen, wirkte wie ein kleines Mädchen, das sich verirrt hatte.

Immer noch hielt er ihre Hand.

„Kommen Sie mit mir“, sagte er sanft. „Ich bringe Sie heim und Sie erzählen mir, was geschehen ist. Ich bin ein guter Zuhörer.“

Ann wehrte sich nicht, als Enric sie fortführte, weg von den Klippen, den Pfad hinab. Mit gesenktem Blick ging sie neben ihm und sprach kein einziges Wort.

Den ganzen Weg über hielt er ihre Hand, während er mit der anderen das Fahrrad schob.

 

 

Kapitel 3

 

„Qué haces?“ – „Was machst du denn da?“, fragte Doña Rosa, als Enric, seine Bettdecke über dem Arm, die Stufen herunterkam.

„Ich schlafe nebenan“, sagte er.

„Nebenan?“

„Bei Ann Neumann.“

Da sich Rosa ihm in den Weg stellte, musste Enric innehalten.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Muss denn immer etwas passieren?“

„Was ist mit dieser Frau los?“

„Nichts. Könnte sie sich nicht in mich verliebt haben? Bin ich denn so unattraktiv?“, versuchte er zu scherzen.

Rosa gab ihm einen Stups. „Hör auf, dich über mich lustig zu machen. Ich weiß genau, dass drüben etwas nicht stimmt. Ich habe es in den Karten gesehen.“

Enric lächelte. „Du und deine Karten.“

„Die Karten lügen nicht.“ Rosa stemmte die Hände in die Hüften. „Und du kommst mir hier nicht fort, bevor du nicht sagst, was geschehen ist.“

Enrics Blick wurde ernst.

„Setz dich“, bat er und nahm sich einen Stuhl. „Du musst es aber für dich behalten.“

„Als ob ich eine dieser Klatschbasen wäre“, entrüstete sich Rosa.

„Das warst du nie. Darum auch liebe ich dich so.“

Liebevoll nickte sie ihm zu und wartete.

„Ann – Señora Neumann … Ich möchte sie ungern diese Nacht alleine lassen. Vorhin … im Naturschutzgebiet … sie war zu nah an den Klippen. Viel zu nah.“

„An welchen Klippen? Und warum?“, fragte Rosa.

„Beim ehemaligen Steinbruch. Ich denke, sie hat ein Problem.“

Rosas Augen huschten unruhig herum, offensichtlich überlegte sie, was der Neffe ihr verschwieg.

„Dann ist es wohl besser, du gibst auf sie acht“, sagte sie dann.

„Das mache ich.“

„Was wird aus deiner Therapie?“, fragte Rosa. „Du musst auch noch zu Abend essen.“

„Ich komme, sobald sie schläft. Und morgen früh bin ich wieder hier.“

Rosa hob die Hand und zeichnete ein Kreuz über Enrics Stirn, wie sie es immer tat.

„Du bist ein Guter. Gott wird dich nicht vergessen“, sagte sie, während sie ihm zärtlich über die Wange strich.

 

***

 

Arnold von Stieglitz, Anns Vater, durchmaß mit großen Schritten die Bibliothek der Villa am Stadtrand, die schon sein Großvater hatte erbauen lassen und in der die Familie seit Generationen lebte.

Er war ein stattlicher Mann, kräftig und dynamisch, mit jener Aura, die erfolgreichen Männern zu eigen ist. Es tat seiner Erscheinung keinen Abbruch, dass inzwischen graue Strähnen das Haar durchzogen.

Seit dem Tod seiner Frau lebte er allein. Hatte das große Haus mit Tochter und Schwiegersohn geteilt, obwohl sie eine eigene Wohnung in Aachen hatten – bis zu jenem Tag vor fast einem Jahr.

Seither war es still geworden in der Villa. Selbst an den Wochenenden, wenn sein einziger Enkel aus dem Internat kam. Denn Jonas war alles andere als ein aufgeweckter Junge. Als hätte er nichts von Wilfried geerbt, diesem vor Energie sprühenden Mann.

Mehr denn je glich Jonas der Mutter – die seit Wilfrieds Tod womöglich noch stiller war als vor der Zeit ihrer Ehe. Jonas aber zog sich zurück, kam nur zu den Mahlzeiten aus seinem Zimmer und dann am Sonntagnachmittag, wenn man ihn ins Internat zurückbrachte.

Das war nicht immer so gewesen. Bis zum siebenten Lebensjahr schien Jonas das Ebenbild seines Vaters zu sein. Was den Großvater mit Stolz erfüllte.

Intelligent, aufgeweckt, lebhaft – hatte Jonas die Gabe, alle für sich einzunehmen. Er war genau der Enkel, den der Großvater sich wünschte, nicht zuletzt, um sein Lebenswerk fortzusetzen.

Doch plötzlich hatte sich etwas geändert.

Damals, als man die Seniorenresidenz auf Mallorca errichtet hatte.