In diesem heißen Sommer

 

1 Kapitel

 

Sein Federkleid war blendend weiß. Der orangerote Schnabel mit dem schwarzen Nasenhöcker spiegelte sich in der glatten Oberfläche des Wassers und wetteiferte darin mit dem Blau des Himmels.

Seit über einer Stunde schon saß Kleopatra in dem Bistro etwas abseits des Garageneingangs und beobachtete den Schwan, der in dem Becken vor der Kathedrale majestätisch seine Runden zog. Immer wieder wanderte ihr Blick zu der mächtigen Kirche hinauf, dem Wahrzeichen von Mallorcas Hauptstadt.

Als der Kellner mit einem bezeichnenden Blick auf die längst schon leere Espressotasse wieder einmal am Tisch vorbeikam, sagte Kleo in bemühtem Spanisch: „La cuenta por favor.

Er machte sofort kehrt. Wie aus der Pistole geschossen nannte er den Preis, und Kleo, die man nur dann Kleopatra nennen durfte, wenn man sie langfristig zu verärgern beabsichtigte, reichte ihm einen Zehn-Euro-Schein, sicher, damit keinen Fehler zu begehen, obwohl sie nicht verstanden hatte, welchen Betrag er forderte.

Kleo hasste Fehler ebenso, wie sie ihren Namen hasste. Denn wer hieß schon freiwillig Kleopatra Bienenstock?

Es war dies ein Geschenk, das sie ihren Eltern verdankte. Ihrer Mutter, um genau zu sein. Denn die war seinerzeit von den Erlebnissen ihrer Hochzeitsreise nach Ägypten dermaßen beeindruckt gewesen, dass ihre Obsession lange nach der Rückkehr ins heimatliche Österreich anhielt – zumindest jene neun Monate lang, nach deren Ablauf Kleo das Licht der Welt erblickte.

Zum Glück für den weiteren Nachwuchs blieb es bei dieser einen Reise, und Kleos Eltern verbrachten fortan ihr Leben wie bisher auch in dem überschaubaren Weinort nahe der Hauptstadt, ohne jemals wieder den Wunsch nach der großen weiten Welt zu verspüren.

So erhielt denn Kleos jüngerer Bruder den vergleichsweise harmlosen Vornamen Friedrich. Friedrich Bienenstock war auch der Name von Kleos Vater, ebenso wie der ihres Großvaters.

Friedrich Bienenstock stand daher in altmodisch rundlichen, ehemals vermutlich goldenen Lettern über dem Laden zu lesen, in dem die unterschiedlichsten Heilbehelfe angeboten wurden – jedoch nicht mehr ausschließlich.

Seit nämlich Kleos Vater im Geschäft das Sagen hatte, was zufälligerweise nicht nur zeitgleich mit seiner Eheschließung, sondern auch mit dem Ableben des bisherigen Firmenchefs zusammenfiel, hielt dort Kleos Mutter das Heft in der Hand.

Obwohl nach ihrem Schulabbruch ohne Berufsausbildung, wusste sie doch ziemlich genau, was sie von ihrem Leben erwartete. Mit Friedrich Bienenstock hatte sie es erreicht. Ab sofort war sie Geschäftsfrau.

Eine ihrer ersten Innovationen bestand darin, die goldenen Lettern über dem Geschäftsportal um einige weitere Buchstaben zu ergänzen, sodass künftig auch ihr Name dort stand: Elfi und Friedrich Bienenstock – und zwar genau in dieser Reihenfolge.

Als Nächstes beschloss sie, ihre Berufsausbildung nachzuholen.

Da ihr allerdings die Zeit, die sie in eine solide Bandagistenlaufbahn hätte investieren müssen, als überzogen lang erschien, erstand sie mehrere Eimer Kartoffeln und übte so lange, bis sie imstande war, mit dem skalpellartigen Messer nicht nur deren Schale, sondern auch die Hornhaut an den Füßen ihrer Kunden zu entfernen, ohne dass es zu unliebsamen Zwischenfällen gekommen wäre.

In weiterer Folge expandierte das altehrwürdige Unternehmen: Man bot fortan Fußpflege an – mit unerwartet großem Erfolg. Mehr und mehr erwies sich Elfi Bienenstock als tüchtige Geschäftsfrau. Sie hatte das erheiratete Unternehmen ebenso fest im Griff wie ihren Ehemann, die Angestellten und die beiden Kinder.

Da sie obendrein von leidenschaftlicher Sparsamkeit war, wuchs der Wohlstand der Familie im selben Ausmaß, in dem Fröhlichkeit und Herzenswärme abnahmen.

Nur ein einziger Punkt machte Elfi Bienenstock zu schaffen: Ihre Vernarrtheit in Friedrich Junior, ihren Sohn, in dem die sonst so praktisch veranlagte Frau ihren Meister gefunden hatte.

War sie Kleo gegenüber von kühler Strenge, wurde Friedrich alles nachgesehen. Bekam Kleo bei der kleinsten Bitte ein Ich habe kein Geld für so etwas zu hören, las die Mutter Friedrich jeden noch so ausgefallenen Wunsch von den Lippen ab, oft sogar noch früher, als er ihn überhaupt äußern konnte.

Dass sich unter diesen Umständen zwischen den Geschwistern eine tiefe Zuneigung entwickelte, grenzte an ein Wunder.

Doch Kleo hing mit hingebungsvoller Verehrung an ihrem jüngeren Bruder.

Er wurde ihr Beschützer, ihr Spielkamerad, ihr Freund. Und nicht nur einmal sorgte er dafür, dass Kleos Strafen, die sie selbst für die kleinste Verfehlung erhielt, auf seine Fürsprache hin ausgesetzt wurden – was bei Friedrichs ungleich schwerwiegenderen Missetaten unnötig war, da sie von selbst dem Vergessen anheimfielen.

Sosehr Kleo auch an dem Bruder hing, war sie dennoch nicht blind gegenüber der Entwicklung, die er nahm. Von Vater und Mutter gleichermaßen verzogen, wurden ihm niemals Grenzen aufgezeigt. Gewohnt, alles tun zu können, begann er, das Maß des Erlaubten immer öfter zu überschreiten, je älter er wurde.

Als der Kellner Kleo jetzt das schwarze Plastiktellerchen mit dem Wechselgeld brachte – an dem auch der Rechnungsbeleg säuberlich festgeklemmt war, damit ihn der Wind, der beständig vom Meer herüberwehte, nicht forttragen konnte –, wischte er so lange über den mittlerweile fleckenlos glänzenden Tisch, bis Kleo ihm einen Teil der Münzen zuschob.

„Muchas gracias“, sagte er daraufhin und verschwand blitzartig.

Kleo griff nach dem Krückstock, den sie in Griffweite an einen der Stühle gelehnt hatte.

Nachdem sie ihr Portemonnaie verstaut und den Riemen der Tasche über den Kopf gezogen hatte, stand sie auf.

Kurz blieb sie stehen, bis sie sicher war, genügend Standfestigkeit zu haben, dabei legte sie den Kopf ein wenig in den Nacken und sah zum Himmel hinauf.

Er war blau. Eine einzige Wolke war zu sehen, so strahlend weiß wie das Federkleid des Schwans, der immer noch von einem Ende des künstlichen Teichs zum anderen schwamm.

Langsam ging Kleo zu ihm hinunter. Wegen des fehlenden Handlaufs zunächst ein wenig unsicher, überwand sie vorsichtig die wenigen Stufen und trat dann an den Rand des Beckens. Der war aus Sandstein. Seine warme Farbe passte sich wunderbar dem Farbton der Kathedrale an, die im Licht der Sonne golden schimmerte.

Heiß war es jetzt, sehr heiß sogar.

Doch das störte Kleo nicht. Schließlich wurde es langsam Sommer und sie war hier im tiefsten Süden Europas, auf einer Insel im Mittelmeer, die sich darauf vorbereitete, Millionen von Touristen für die Dauer ihres Urlaubsaufenthaltes zu empfangen.

Kleo zog die Luft ein, roch den Duft des nahen Meeres, die Salzluft, in die sich auch andere Gerüche mischten. Der nach Fisch zum Beispiel und der nach Dieselöl.

Mit stetigem Rauschen fuhren die Autos auf der dreispurigen Straße am Hafen vorbei, hupten, und man konnte die Musik hören, die laut aus den Radios drang. Ab und zu bremsten sie auch, wobei dann ihre blockierenden Reifen schwarze Spuren auf dem Belag hinterließen.

Immer noch bereitete es Kleo Probleme, das quietschende Geräusch von Reifen zu hören, dieses rutschende Schleifen, das sie auf dem Asphalt verursachten. Dann zuckte sie mit unverminderter Regelmäßigkeit zusammen, unfähig, das Zittern zu beherrschen oder die Gänsehaut, die ihr schockartig über den Rücken lief.

Auch jetzt wieder spannte sich die Haut auf ihren nackten Armen, stellten sich die rotgoldenen Härchen auf, ohne dass Kleo es hätte verhindern können.

Langsam ließ sie sich auf den Beckenrand niedersinken, während sie gezielt aus- und wieder einatmete. Sie angelte nach ihrer Handtasche, zog den Zippverschluss auf und entnahm ihr die Wasserflasche, die sie an die Lippen führte. Ein, zwei Schlucke nur nahm sie, doch gleich darauf wurde es besser. Die Panik legte sich. Kleo konnte ruhig weiteratmen, spürte wieder die Hitze des heißen Sommertags, und der Schweißfilm auf ihrer Haut hörte auf, sich eiskalt anzufühlen.

Da bemerkte sie auch schon die junge Frau, die auf der mittleren der Stufen, die zu dem Bistro führten, haltmachte und sich suchend umsah.

Kleo griff hastig nach ihrem Krückstock, stand auf und winkte.

„Ich bin hier“, rief sie.

Die Frau mit dem fröhlichen Gesicht kam auf Kleo zu.

Hola“, rief sie. „Du musst Kleo sein. Ich bin Teresa. Es tut mir leid, dass ich dich nicht gleich vom Flughafen abholen konnte, aber es war unmöglich, vormittags freizubekommen. Toll, dass du dich inzwischen selbstständig umgesehen hast. Ich hoffe, du hattest keine Probleme, den richtigen Bus nach Palma zu finden?“

Mit einem schnellen Seitenblick musterte sie den Krückstock, auf den sich Kleo während der Unterhaltung stützte.

„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Teresa dann. „Nicht, dass du dich am Ende überanstrengst. Immerhin hast du schon den Flug hinter dir.“

„Ich habe mir nur die Kathedrale angesehen, danach bin ich im Schatten gesessen“, sagte Kleo auf den kleinen Park deutend, der von hohen Bäumen umgeben war, „und bis eben erst war ich in dem Bistro dort. Ich soll mich sogar möglichst viel bewegen, hat man gesagt.“

„Na, dann wollen wir gleich mal weiter“, sagte Teresa mit forscher Fröhlichkeit. „Deine Sachen sind vorgestern auf der Finca angekommen. Alle drei Kisten.“

Teresa wandte sich zum Gehen, und Kleo folgte ihr in Richtung der Garage.

Die kleine Finca lag ein wenig verborgen, etwas außerhalb von Santanyi, umgeben von wuchernden Feigenkakteen, Zitronen- und Orangenbäumen, die bis zu den Astansätzen von Gräsern und Gestrüpp zugewachsen waren, ebenso wie die Olivenbäume, deren knorrige Stämme sich tapfer bemühten, frische Triebe hervorzubringen.

Mehrere Palmen, deren dichtes Blattwerk genauso wenig gepflegt wurde wie das übrige Grundstück, drängten sich an der Seite des Gebäudes und wiesen dem Unkundigen den Weg durch das Gestrüpp zum Hauseingang.

Es schien, als hätte sich die Natur hier ein eigenes Refugium geschaffen, glücklich darüber, einmal in Ruhe gelassen zu werden und sich nur der eigenen Ordnung beugen zu müssen.

Hühner scharrten auf dem staubigen Boden, pickten die Samenkörner des wild wachsenden Hafers auf und suchten sofort wieder Schutz unter dem stacheligen Dickicht der Kakteen, sobald der Schatten auf dem Boden das Kreisen eines Raubvogels verriet.

Überall, wo sie es für richtig hielten, legten sie dann auch ihre Eier ab, die meist unbeachtet blieben, sodass zu jeder Jahreszeit das helle Piepsen winziger gelber Küken zu hören war, die den Hennen hinterherliefen, solange sie deren Fürsorge benötigten, und weiterzogen, wenn sie dazu in der Lage waren.

Die Katzen der Umgebung kamen und gingen, wie sie Lust verspürten, fochten ihre Kämpfe aus und kurierten nicht selten auch ihre Wunden hier, wobei sie keiner störte.

Das Haus selbst hätte man als romantisch bezeichnen können, solange man nicht gezwungen war, darin zu wohnen.

Es war ein einfaches Steinhaus, wie sie seit Hunderten von Jahren auf der Insel gebaut wurden, zu Zeiten, als es noch kein elektrisches Licht und keine Zentralheizungen gab.

So kam denn auch das Wasser aus einem Brunnen, der meist nur dann Wasser hatte, wenn es stark regnete, was im Winter manchmal der Fall war, und auch da nicht immer.

Daneben stand eine Zisterne. Ein hohes Becken aus grauem Beton, in das der Tankwagen Wasser einfüllte, das bestenfalls zur Körperpflege verwendet werden konnte. Zum Kochen oder gar Trinken eignete es sich nicht.

Allerdings bot dieses Becken den willkommenen Nebeneffekt, dass man es zum Schwimmen verwenden konnte – sofern man den dichten Algenbewuchs an den Rändern übersah.

An der Stirnseite lehnte eine Leiter, die jede Art von Unfallprävention ad absurdum führen musste.

Sie war aus Holz. Unter die etwas kürzere, schon morsche Seite hatte man mehrere Steine geschichtet, sodass sich das Ding jetzt in die andere Richtung neigte. Die untersten Stufen sahen zwar noch einigermaßen intakt aus, ebenso die obersten, dafür fehlten die in der Mitte gänzlich.

Neben dem Haus war ein kleiner Verschlag – auch er aus den rötlichen Steinen der Umgebung gebaut. Ein Stück Welleternit sollte vermutlich gegen den schlimmsten Regen schützen, und ein einfacher Lattenrost vor dem Eingang sorgte für weiteren Schutz, wenn auch nicht erkennbar war, wogegen. Hier befand sich das Dieselaggregat, ein in die Jahre gekommener Motor, dessen Kapazität gerade einmal ausreichte, eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen.

Auch eine Waschmaschine gab es. Es war dies eines jener seltenen Exemplare, die nur mit kaltem Wasser betrieben werden. Der Rost, den sie angesetzt hatte, ließ ohnehin an ihrer Funktionstüchtigkeit zweifeln, doch die Autobatterien, die dem Aggregat vorgeschaltet waren, sahen erstaunlich neu aus.

Zwischen zwei Bäumen, im Schatten der Palmen, hing eine Hängematte. Das Kaleidoskop ihrer bunten Farben leuchtete zwischen den Stämmen hervor und ersetzte die nicht vorhandene Blütenpracht des Grundstücks.

Im Schatten einer Gruppe aus Oliven- und Mandelbäumen befand sich ein Sammelsurium an Stühlen. Da war einer aus rotem Plastik mit dem Werbeaufdruck einer Biermarke, ein anderer, dessen Sitz- und Lehnfläche mit weißen Plastikschnüren bespannt war, während der ehemals weiße Lack seiner Metallbeine durch das Braun des Rostes ein nicht uninteressantes Muster aufwies. Dann gab es noch einen für den Außengebrauch gänzlich ungeeigneten, wackeligen Holzstuhl und einen Baumstumpf, auf dem ein verschlissenes Samtkissen lag.

So zusammengewürfelt wie die Stühle waren auch die Tische. Das fehlende Bein des einen ersetzte ein Stapel Betonziegel, während vier Steinquader eine abgeblätterte Pressspanplatte trugen, deren wellige Oberfläche einem überquellenden Aschenbecher, einigen zerdrückten Dosen und mehreren abgestoßenen Trinkbechern aus braunem Ton Platz bot.

Darunter lagen mehrere leere Rotweinflaschen.

Was nicht in dieses Bild wilder Aussteigerromantik passte, war das ganz offensichtlich neu errichtete Nebengebäude.

Es war nicht sehr groß, kaum vier mal sechs Meter im Grundriss, aber solide aus Betonsteinen gebaut, fensterlos und mit einer Eingangstür aus braunem Kunststoff versehen. Auf dem ebenso neuen Dach konnte man bei näherer Betrachtung zahlreiche Dachflächenfenster erkennen.

Ein teils an überhängenden Ästen befestigtes, wahllos um Holzpflöcke geschlungenes Elektrokabel führte vom Aggregat zu dem Gebäude hin, wo es durch eine einfache Öffnung unterhalb des Daches im Inneren verschwand.

Das Erste, was Kleo zu sehen bekam, als sie die Finca erreichten, war ein eisernes Tor vor seiner Einfahrt. Abgesehen davon, dass es offen stand, war seine Sinnhaftigkeit ohnehin fragwürdig, denn die Trockenmauern zu beiden Seiten hatten längst jede Funktionalität eingebüßt, waren eingestürzt, von Wind und Wetter unterspült oder von den Wurzeln der dichten Büsche untergraben worden.

Dornengestrüpp machte sich hier ebenso breit wie Kletterpflanzen und genügsame Sträucher.

Da und dort leuchteten sogar einzelne Blüten hervor: hellblau die des Rosmarins, zartrosa jene des Thymians.

Teresas zerbeulter Berlingo holperte über die Einfahrt. Kleo spürte einmal mehr einen schmerzhaften Stich in ihrem Bein und versuchte, sich gegen die schlimmsten Stöße abzustützen.

Dann endlich kam der Wagen zum Stehen.

„Wir sind da“, sagte Teresa überflüssigerweise.

Nun doch ein wenig erschöpft von ihrer Reise stieg Kleo aus, hielt sich an der Tür fest, wartete, bis ihr Teresa die Krücke reichte.

Vielleicht hätte sie doch lieber auf dem Flughafen bleiben sollen, statt einen Abstecher in die Stadt zu machen, dachte Kleo kurz, als sie einmal mehr den Schmerz in ihrem Bein wahrnahm.

„Yves!“, rief Teresa. „Bist du hier?! Wir sind da!“

Kleo blieb stehen und betrachtete das Haus, das für ein ganzes Jahr ihr Zuhause werden sollte, sah sich anschließend noch etwas genauer um.

Obwohl es längst später Nachmittag war, brannte die Sonne mit unverminderter Kraft hernieder. Der dichte Bewuchs des Grundstücks schuf zahlreiche schattige Plätzchen, ohne dass es dort vermutlich wesentlich kühler gewesen wäre. Es war nur nicht ganz so unerträglich heiß.

Kleo mochte die Hitze, immer schon war ihr eher zu kalt als zu heiß gewesen. Dennoch war sie jetzt froh, unter dem Schutz einer Palme zu stehen und nicht der Glut der Sonne ausgesetzt zu sein.

Der Boden ringsum war ausgedorrt, verriet, dass es schon lange nicht mehr geregnet hatte.

Zwischen den ineinander verwachsenen, scheibenartigen Trieben der Kaktushecke schlüpfte gerade eine Henne hindurch, hinter sich eine Schar piepsender Küken, was sofort ein Lächeln auf Kleos Gesicht zauberte.

Sie ging auf die Tiere zu, lockte sie, ohne dass diese sich davon im Mindesten beeindrucken ließen. Kleo suchte in ihrer Tasche, fand den Rest des Weißbrots, das sie irgendwann eingesteckt hatte, und begann es zwischen den Fingern zu zerkrümeln. Mit aufgeregtem Geflatter stürzten die gelben Knäuel übereinander, um die Krümelchen zu ergattern, während die Henne gackernd stehen blieb, immer wieder zum Himmel äugte, auf der Suche nach möglicher Gefahr.

Kleo klopfte sich die Hände an dem langen, dünnen Rock ab, hinter dem sie ihr Bein vor allzu neugierigen Blicken verbarg, und drehte sich um.

Der Mann, der neben Teresa in der geöffneten Tür des Steinhauses lehnte, trug nur eine kurze Hose, die aussah, als hätte er sie gerade eben erst hastig übergezogen, denn der Zippverschluss stand noch offen. Sein halblanges dunkles Haar war zerzaust, und selbst auf die Entfernung hin konnte Kleo die Bartstoppeln auf dem Gesicht erkennen.

Eine Hand an den Rahmen gestützt, hielt er mit der anderen eine Flasche, die er an die Lippen setzte.

Teresa sagte etwas, was Kleo nicht verstehen konnte, dabei versetzte sie ihm einen leichten Schlag auf den nackten Bauch.

Noch einmal hob er die Flasche zum Mund, während seine Augen denen von Kleo begegneten.

Schon wollte sie etwas sagen, einen Gruß rufen oder auch nur ihren Namen nennen. Doch da drehte er sich bereits von ihr fort und verschwand im Hausinneren.

Als Kleo zu Teresa sah, zuckte die nur die Schultern.

„Ich zeige dir noch schnell dein Zimmer“, sagte sie. „Dann muss ich leider weiter. Meine Pause ist gleich vorbei.“

Im Haus war es dunkel und es dauerte eine Weile, bevor sich Kleos Augen daran gewöhnt hatten.

Sie befand sich in einer Art Vorraum, an dessen rechter Seite so etwas wie eine Küchenzeile war, zumindest schloss Kleo das aus dem Berg an schmutzigem Geschirr, der sich dort türmte, und dem Kühlschrank an der Mittelmauer, durch deren Durchbruch man über einige Stufen weiter in das Innere des Hauses vordringen konnte.

„Dein Zimmer ist gleich hier“, sagte Teresa und ging nach links, wo sie eine Tür öffnete.

Der Raum war klein und roch muffig, obwohl das Fenster weit offen stand. Ein alter Schrank auf gedrechselten Füßen, ein Bett und ein Tisch mit zwei Stühlen waren die einzigen Möbelstücke.

Doch Kleo achtete nicht weiter darauf. Sie sah nur das Bild, das über dem Bett hing.

Es war ein abstraktes Ölgemälde, auf dem Kleo eine grüne Wiese mit Bäumen erkannte, die ihre Äste vor dem gewaltigsten Sonnenuntergang ausbreiteten, den sie jemals gesehen hatte. Der Himmel schien direkt zu brennen in dem Feuerwerk an Rottönen, die von Purpur bis hin zu einem rötlichen Ockergelb reichten.

Wie gebannt blieb Kleo vor dem Bild stehen, unfähig, etwas anderes zu tun, als es zu betrachten.

„Deine Kisten stehen hier in der Ecke“, sagte Teresa. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich morgen an. Das heißt, falls es Yves nicht schaffen sollte, bis dahin nüchtern zu werden.“

„Hat er das gemalt?“, fragte Kleo, obwohl sie die Antwort kannte.

„Das und alle anderen, die hier herumhängen“, sagte Teresa. „Er ist gut, nicht wahr?“

Kleo nickte, ohne den Blick abzuwenden. Einzigartig gut, dachte sie. Dann drehte sie sich um, musste sich förmlich zwingen, den Blick von dem Bild loszureißen.

„Wohin soll ich dir die Sachen stellen, die wir vorhin gekauft haben?“, fragte Teresa. „Isst du sie gleich – wenn nicht, stelle ich sie in den Kühlschrank, auch wenn er nicht ganz so funktioniert, wie er sollte, denn dazu müsste der Generator ständig laufen. Aber wenigstens sind die Lebensmittel dort sicher vor eventuellem Ungeziefer.“

Als sie Kleos Blick auffing, sprach sie weiter. „Ameisen, zum Beispiel. Du solltest weder Brot noch Käse draußen liegen lassen. Überhaupt nichts Essbares.“

„Danke“, sagte Kleo nur, und Teresa wandte sich zum Gehen.

„Bad und Klo sind dort hinten“, ergänzte sie noch und zeigte zu dem Gang, der ins Innere führte. „Brauchst du irgendetwas von deinen Sachen? Für die Nacht, meine ich?“

Kleo schüttelte den Kopf.

„Bis morgen habe ich alles“, sagte sie und deutete auf ihren Shopper. „Wozu gibt es große Handtaschen? Zahnbürste, Wäsche, T-Shirt, ich denke, es fehlt mir bestimmt an nichts.“

„Ach ja, das Trinkwasser steht gleich hier“, sagte Teresa im Hinausgehen und schob unter der Küchenzeile einen Vorhang zur Seite. „Nimm dir, was immer du brauchst. Morgen dann kannst du mit Yves alles Weitere besprechen. Vormittags arbeitet er meistens. Da findest du ihn im Atelier.“

„Verstehe“, meinte Kleo.

„Also dann, adiós. Sollte es irgendwo brennen, ruf mich an.“

Adiós. Alles okay. Und danke fürs Bringen.“

Teresa hob die Hand, um zu winken, ging, ohne sich noch mal umzudrehen, zu dem Wagen, stieg ein, startete und fuhr in einer Wolke aus Staub davon, nicht ohne die Hühner, die zu träge waren, um schnell genug das Weite zu suchen, mehrmals anzuhupen.

Als Yves Dubois um zwei Uhr morgens aufwachte, brauchte er einige Minuten, um sich zu orientieren. Sein Kopf schmerzte, und die Kehle war wie ausgebrannt. Fluchend machte er sich auf den Weg zur Toilette.

Während er kurze Zeit später in der Küche nach einer Wasserflasche suchte, registrierte sein Unterbewusstsein, dass das Geschirr, das sich dort immer stapelte, verschwunden war.

Mit der Flasche in der Hand öffnete er die Eingangstür und trat ins Freie. Es war immer noch sehr warm.

Wäre er gänzlich wach gewesen, hätte er vielleicht innegehalten und den nächtlichen Himmel betrachtet, der mit unzähligen Sternen übersät war. Oder er hätte einen Blick auf die Palmen werfen können, deren Blätter sich trotz der Windstille leicht bewegten und dabei raschelten.

Es war dies nicht das einzige Geräusch, das es zu hören gab. Da waren noch so viele andere: Schafe, deren Glocken bimmelten, während die Tiere auf den umliegenden Grundstücken nach Fressbarem suchten. Ein Hund, der in der Ferne bellte. Oder das typische Geräusch eines Wagens, als er auf der angrenzenden Straße vorbeifuhr.

Doch Yves hörte und sah nichts davon.

Er kramte in seiner Hosentasche und ging zurück ins Haus, zog die Schubladen in der dunklen Küche auf, bis er entdeckte, was er suchte.

Ungebremst fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Als Yves das Geräusch vernahm, das sich in der Ruhe der Nacht noch um einiges lauter anhörte, fluchte er wieder.

Mit vorsichtigen Schritten ging er zu der Sitzgruppe zwischen Mandel- und Olivenbäumen, oder besser gesagt, zu der Ansammlung der alten Stühle, die sich dort befand.

Mit einem Geräusch, das am ehesten einem Seufzen glich, ließ er sich in den roten Plastiksessel fallen, warf die Schachtel auf den Tisch, öffnete sie und begann, Tabak in das Zigarettenpapier zu füllen – zupfte ihn zurecht und befeuchtete anschließend das Papier mit der Zunge, bevor er es nochmals zwischen den Fingern rollte. Gleich darauf flammte das Feuerzeug auf.

Nach dem ersten Zug streckte Yves seine Beine aus, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dabei betrachtete er den Himmel.

Erst nachdem er die Wasserflasche zur Hälfte geleert hatte, war sein Hirn bereit zu funktionieren.

Das also war Kleopatra. Wie zum Teufel kam ausgerechnet diese Person hierher?

Er versuchte sich zu erinnern, was ihm Teresa seinerzeit erzählt hatte. Kunststudentin sollte sie sein, Malerin, der irgendein Gönner den Aufenthalt im Süden finanzierte. Für Studienzwecke.

Das war völlig unmöglich. Dies hier konnte sie nicht sein.

Die Frau, die er am Nachmittag flüchtig gesehen hatte, glich eher einer Kindergärtnerin oder einer Zahnarzthelferin. Und Kleopatra passte zu ihr wie Goliath zu einem Dackel.

Die Füße fest gegen das Erdreich gestemmt, begann Yves auf dem Stuhl zu schaukeln.

Was nur sollte er mit dieser Frau anfangen? Und wie wurde er sie schnellstmöglich wieder los?

Gleich darauf fiel ihm ein, warum momentan eine fremde Person in seinem Haus schlief.

Er war mit der Miete im Rückstand und das nicht erst seit dem letzten Monat. Dass er immer noch in dem Haus wohnen konnte, verdankte er ausschließlich dem Umstand, dass das Gebäude Teresas Vater gehörte. Und Teresa war seine Freundin. Ehemalige Geliebte wäre vermutlich die bessere Bezeichnung für ihr Verhältnis. Irgendwann hatten sie jede Menge Spaß miteinander gehabt.

Er hatte Teresa auch gemalt und ihr das Bild dann geschenkt. Weil es ihr gefallen hatte. Und weil er Teresa immer noch mochte. Im Gegensatz zu seinem letzten Galeristen. Den mochte er nicht mehr.

Dabei hatte er sich lange gut betreut gefühlt, eigentlich seit seinem Zerwürfnis mit jener berühmten Galerie, die ihn zuvor vertreten hatte. Zu einer Zeit, als er noch an seine weltumspannende Karriere geglaubt hatte.

Doch im letzten Jahr hatte sich einiges geändert.

Neue Partner waren eingestiegen. Leute mit viel Geld, die von Kunst keine Ahnung hatten. Die nur auf den Profit aus waren.

Die hatten dann begonnen, seine Arbeit zu beurteilen. Seither war die Zusammenarbeit mit dem Galeristen Geschichte. Leider aber auch die Vorschüsse. Ganz abgesehen davon, dass drei seiner Bilder immer noch nicht abgerechnet waren.

Daher stand ihm nur noch die monatliche Zuwendung eines Gönners zur Verfügung, der ihn aus einer persönlichen Begeisterung heraus unterstützte, weil er ihn schätzte, an ihn glaubte und ihm immer wieder ein Bild abkaufte. Doch dieser Betrag reichte für Farben und für Leinwand. Meist auch fürs Essen. Für die Miete reichte er nicht.

Also war Yves gezwungen gewesen, nach neuen Wegen zu suchen, obwohl er sicher war, dass sich irgendwann ohnehin alles von selbst fügen würde. Das war immer so gewesen – nur löste diese positive Einstellung das Problem mit Teresas Vater nicht.

Zudem waren seine eisernen Reserven geschrumpft. Ein Großteil davon steckte in dem Atelier, das er mit Freundeshilfe und eigener Arbeit errichtet hatte.

Seit einem halben Jahr war es fertig und er so produktiv wie schon lange nicht mehr. Eigentlich war alles in bester Ordnung. Außer der verdammten Miete.

Und so war Teresa auf die Idee verfallen, zumindest einen Teil durch einen weiteren Bewohner finanzieren zu lassen.

Yves wusste, dass sie es gut meinte, dennoch hatte er sich zunächst mit aller Macht gesträubt, schlussendlich aber zugestimmt, einen Kunststudenten bei sich aufzunehmen. Jemanden, der hier malen wollte und ansonsten nicht weiter störte. Der sich im Ort herumtrieb oder am Strand. Der lang schlief und die Nacht zum Tage machte. Vor allem aber jemanden, um den man sich nicht zu kümmern brauchte.

Schon der Gedanke, dass die Person, die sich bei Teresa gemeldet hatte, eine Frau war, behagte Yves nicht besonders.

Nicht, weil er etwas gegen Frauen hatte. Ganz im Gegenteil. Aber er hatte etwas gegen Malerinnen.

Ungern nur erinnerte er sich an die Studentinnen an der Universität. Ständig scharten sie sich um den Professor, kamen überpünktlich zu den Vorlesungen, saßen dort in den ersten Reihen mit aufgestützten Armen und Interesse signalisierendem Blick.

Ihr Skizzenblock war voller Entwürfe, die sie nicht müde wurden, herumzuzeigen. Außerdem malten sie für seinen Geschmack viel zu schön. Schöne Farben, schöne Formen. Nichts weiter als gefällige Bilder.

Für gewöhnlich verkniff er es sich, seine Kolleginnen zu kritisieren. So wie er für sich in Anspruch nahm, zu tun und zu lassen, was er wollte, gestand er es allen anderen ebenfalls zu. Jeder musste das tun, was für ihn das Beste war.

Dennoch war es so, dass er diese Art von Bildern nicht mochte. Mehr noch: Er verabscheute sie.

Für ihn kam die Detailverliebtheit der Darstellung einer Vergewaltigung des Objektes gleich. Er war Maler, kein Fotograf. Er malte, was er sah, gefiltert durch das Gefühl, das der Anblick in ihm erweckte. Und seine Augen waren nun einmal etwas anderes als die Linse einer Kamera.

Nachdem er sich zwei weitere Zigaretten angesteckt hatte, stand Yves auf und streckte sich. Dann machte er sich auf den Weg ins Atelier, nicht ohne im Vorbeigehen den Generator anzuwerfen, der mit einem dröhnenden Rattern seine Arbeit aufnahm.

Ein Druck auf den Knopf, und die drei Tageslichtleuchten erhellten den gesamten Raum. Schon nach dem ersten Blick stellte Yves fest, dass jemand im Atelier gewesen sein musste.

So großzügig er den Begriff Ordnung sonst auch auslegte, so eng definierte er ihn in Bezug auf seine Arbeit. Daher wusste er genau, dass er den Skizzenblock niemals auf diese Weise hingelegt hätte. Auch der Bleistift befand sich nicht an seinem gewohnten Platz.

Yves trat näher und schlug das Deckblatt des Blocks zurück. Fassungslos starrte er auf die Zeichnung, die er sah.

Sie zeigte einen Schwan. Er war so naturalistisch gezeichnet, dass er fast wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie wirkte.

Allerfeinst war das Gefieder ausgearbeitet, als hätte jemand Albrecht Dürers Feldhasen Konkurrenz machen wollen. Beinahe hätte man geglaubt, jede Feder einzeln zu sehen.

Der Schwan schwamm in einem Teich, und was im Hintergrund noch sichtbar war, stellte zweifelsohne die Kathedrale von Palma dar.

Plötzlich neugierig geworden, nahm Yves den Block in die Hand und hob ihn hoch…