Kapitel 1
Emely fuhr die Kurven der Garagenausfahrt hinunter, steckte die Parkkarte in das Lesegerät und sah zu, wie sich die rot-weiß gestreifte Schranke öffnete. Gewohnheitsmäßig schaltete sie das Abblendlicht aus, folgte dann den Bodenmarkierungen, die den Weg zur Autobahn kennzeichneten.
Es war ein wunderschöner Tag – mit Sonnenschein und einem beinahe kitschig blauen Himmel. Vor dem Flughafengebäude raschelten die Blätter der hohen Palmen im Wind und schimmerten dabei silbrig.
Auch heute wieder hatte sie Heinz zur Maschine nach Deutschland gebracht – wie so oft in den letzten Monaten.
„War schön mit ihm, wie immer“, dachte Emily ein wenig bedauernd und drehte das Radio lauter.
Gleich darauf konzentrierte sie sich auf den dichten Morgenverkehr, fuhr von der Autobahn wieder ab, passierte einen Kreisverkehr und ordnete sich in die Kolonne zur Schnellstraße ein, die sie heimwärts bringen würde.
Der Verkehr wurde schwächer, je weiter sie die Hauptstadt hinter sich ließ, und Emely gestattete sich den einen oder anderen Blick auf die Landschaft.
Windmühlen säumten den Weg, manche schon baufällig, die einst prächtigen Flügel rostig oder abgebrochen. Wie einsame Gerippe standen sie da, wirkten irgendwie traurig und verloren.
Andere wiederum waren liebevoll restauriert worden. Die Räder in bunten Farben gestrichen, präsentierten sie sich als stolze Wahrzeichen der Insel. Von Blau über Weiß und Rot bis hin zu einem kräftigen Grün reichte die Farbskala.
Das Land in diesem Abschnitt war flach – breite Felder, einzelne Gehöfte, Tiere, ab und zu ein kleines Dorf. Weit im Hintergrund konnte man die hohen Berge der Serra de Tramuntana, der Bergkette im Norden der Insel, erkennen.
Emely erreichte die leichte Anhöhe mit dem Wasserturm, der die gesamte Ebene bis hin nach Palma zu überblicken schien. Sein blau-weißer Anstrich verlieh ihm eine Art mediterrane Heiterkeit, kein Wunder, dass er inzwischen weithin als Wahrzeichen bekannt war, ein stummer Wächter, der alle Vorbeiziehenden grüßte.
Emely winkte dem Turm zu, wie sie es immer tat, wenn sie an ihm vorbeifuhr. Dabei dachte sie an die letzten Monate zurück.
So vieles hatte sich verändert.
Ihre Freundin Marika war verheiratet und auf Hochzeitsreise, und Lisa, ihre andere Freundin, hatte ein Kind.
Kurz nur erinnerte sich Emely an den Silvesterabend vor zwei Jahren.
„Vielleicht sollte ich doch lieber Wahrsagerin werden“, murmelte sie.
Lisa würde heiraten, hatte sie beim Bleigießen orakelt, Marika hingegen eine Kreuzfahrt unternehmen.
Beides war eingetroffen.
Steile Falten bildeten sich über Emelys Nasenwurzel, als sie sich an ihren eigenen Gießversuch erinnerte: eine Unzahl funkelnder Körnchen, die sie in der Laune der Silvesternacht als Geldmünzen gedeutet hatte.
Seither beharrten die Freundinnen hartnäckig darauf, dass Emely ein Lottogewinn winkte.
Unwillig versuchte sie, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. In ihrem Leben sah es nach nichts weniger aus als nach einem Lottogewinn. Abgesehen davon, dass sie nicht einmal spielte.
Doch das kümmerte weder Lisa noch Marika.
„Vielleicht gibt es einen Onkel in Amerika, von dem du nichts weißt, den du beerbst“, hatte Lisa erst vor Kurzem gemeint. „Sicher ist, dass du eine Menge Goldmünzen gegossen hast – wo genau sie herkommen, steht noch nicht fest.“
Lisa war eben eine unverbesserliche Romantikerin! Überhaupt war sie die sanfteste und verträumteste von ihnen dreien.
Marika war da schon etwas praktischer veranlagt. Obwohl – seit sie in Dean, einem erfolgreichen Schriftsteller, die Liebe ihres Lebens gefunden hatte, war auch Marika deutlich weniger rational.
Blieb zum Glück noch sie selbst als vernunftbegabte Person übrig.
Mit viel Einsatz hatte Emely sich auf Mallorca eine neue Existenz geschaffen. Zuvor war ihre Ehe gescheitert, und sie hatte alles verloren. Jeglicher Illusion beraubt, hatte sie den Neuanfang gewagt und es geschafft. Jetzt war sie Mitte dreißig, und für Männer gab es in ihrem Leben keinen Platz.
Zögerlich nur war sie bereit gewesen, Dean zu vertrauen. Inzwischen hatte sie ihn ebenso in ihr Herz geschlossen wie Lisas Ehemann Juan.
Diese vier Menschen betrachtete sie als ihre Familie.
Sie wusste, das Band der Freundschaft war fest geknüpft und stark genug, um auch in schlechten Zeiten zu bestehen. Darüber hinaus verließ sie sich am liebsten auf sich selbst.
Beruflich war sie jedenfalls ihr eigener Chef. Der Kosmetik- und Friseursalon in dem beliebten Badeort an der Küste gehörte ihr, und auch in der hübschen Wohnung, von deren Terrasse aus man einen wundervollen Blick auf das nahe gelegene Meer hatte, konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Ihr Einkommen ermöglichte zwar keine großen Sprünge, aber es reichte aus, um ein angenehmes Leben zu führen. Was also wollte sie mehr?
Mit der Zeit hatte sie sich einen netten Freundeskreis aufgebaut. Menschen, mit denen sie sich gerne traf, zwanglos plaudern konnte und die sie akzeptierten, wie sie war, ohne mehr zu fordern, als sie zu geben bereit war.
Wieder warf sie einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft.
An einen Hügel geschmiegt drängten sich die Häuser von Montuïri aneinander, freundlich wirkten sie, schienen zu einem Besuch einzuladen.
Emely ließ das Dorf hinter sich und dachte dabei über Heinz nach.
Mit ihm zusammen war sie in Deutschland aufgewachsen, er war ihr Spielgefährte, ihr Klassenkamerad gewesen.
Durch puren Zufall war er letztes Jahr in der Tür ihres Salons aufgetaucht, nicht ahnend, dass sie auf Mallorca lebte.
Seither kam er beinahe jeden Monat auf ein verlängertes Wochenende. Weil er sich in die Insel verliebt hatte.
So manche Bemerkung der Freundinnen musste sich Emely seither gefallen lassen, die einfach nicht verstehen wollten, dass sie nichts weiter als gute Freunde waren – beide froh, endlich wieder einen Menschen zu haben, mit dem man reden konnte, den man genügend kannte, um ihm zu vertrauen.
Es stimmte, sie fühlte sich entspannt in Heinz´ Nähe.
Wie schön war es, von der gemeinsamen Schulzeit zu reden, sich an die Streiche, die Lehrer, die Mitschüler zu erinnern. Mit Heinz hatte sie einen Partner und konnte dennoch das eigene Leben weiterführen.
Auch Heinz war verheiratet gewesen – und geschieden, wie sie. Kurz darauf hatte er sich als Heilmasseur selbstständig gemacht, wohl deshalb, weil ihm die Arbeit guttat, ihn zwang, nicht über die Vergangenheit nachzudenken. Emely merkte, wie ihm die Gespräche mit ihr halfen, die Scheidung, die knapp zwei Jahre zurücklag, endgültig zu verkraften. Denn im Gegensatz zu ihr hatte er Kinder. Zwei kleine Mädchen, die den Vater sicherlich vermissten, auch wenn er sie regelmäßig traf.
„Emely – Klagemauer für alles“, murmelte sie, ehe sie das Radio noch lauter drehte, weil gerade Edith Piafs „Je ne regret rien“ gespielt wurde. Aus vollem Hals sang sie den Refrain mit.
Bedauerte sie eigentlich etwas?
Spontan schüttelte sie den Kopf, spürte gleichzeitig einen Stich im Inneren und schloss für einen ganz kleinen Moment die Augen. Gleich darauf konzentrierte sie sich wieder auf die Fahrbahn.
Was wäre gewesen, wenn sie ihr Kind nicht verloren hätte? Fast elf Jahre war das jetzt her. Ob sie eine gute Mutter geworden wäre? Ein wenig noch, und ihre Tochter hätte angefangen, sich für Jungs zu interessieren.
Es war immer schon ihr größter Wunsch, ein Kind großzuziehen. Hätte sie es geschafft als Alleinerziehende? Ob sie dann auch nach Mallorca übergesiedelt wäre? Wohl kaum.
Seit sie denken konnte, hatte sie Kinder gewollt. Doch dieser Traum war wohl für immer ausgeträumt.
Denn weder sie noch Heinz wollten wieder heiraten. Außerdem war Heinz selbst noch ein großes Kind – für jeden Spaß zu haben, doch viel mehr Kumpel als Ehemann oder gar Vater.
Wenn es darum ging, Entscheidungen zu fällen, tat er sich schwer.
Vermutlich waren sie deshalb so dicke Freunde. Weil Emely immer schon die Stärkere war, jemand, an den man sich anlehnen konnte, stets zur Stelle, wenn man sie brauchte.
Dabei hätte auch sie sich manchmal gerne angelehnt.
Sie seufzte.
War das der Grund, warum sie ihren Mann geheiratet hatte? Wo hatte sie bloß ihre Augen gehabt?
Ihr Mann war das Gegenteil von verlässlich: ein selbstsüchtiger Angeber, der sie bei erster Gelegenheit nicht nur betrogen, sondern gleich auch im Stich gelassen hatte.
Das Thema Ehe war ein für alle Mal erledigt.
Umso besser gefiel Emely die wiedererlangte Freundschaft mit Heinz.
Es war schön, wenn er bei ihr war, das verwaiste Gästezimmer mit Leben füllte. Auch seine zahlreichen Sachen schienen zu warten, bis er wiederkam.
Nach Jahren des Single-Daseins genoss Emely die Gespräche, die Anwesenheit eines Mannes in der Wohnung. Das Wissen, dass er nach einem gemeinsamen Wochenende wieder abreisen musste, war ihr Freude und Kummer zugleich. Gerne hätte sie manchmal die Zeit verlängert, die sie zusammen hatten, den Abschied hinausgezögert.
Andererseits brauchte sie ihr Alleinsein, um sich nicht eingeengt zu fühlen.
Seit Kurzem schliefen sie auch miteinander.
Irgendwie hatte es sich ergeben und es war schön. Körperliche Nähe ohne Gefühlschaos. Keine unerfüllbaren Träume oder realitätsfernen Wünsche wie in früheren Jahren. Einfach nur ruhige Vertrautheit und gegenseitige Wärme.
Emely war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe die Abzweigung zu der Umfahrungsstraße übersehen hätte. Gerade noch rechtzeitig reihte sie sich in die Kolonne der abbiegenden Autos ein.
Inzwischen war es später Vormittag, doch wie immer montags war ihr Salon auch heute geschlossen.
Also beschloss sie spontan, die Zeit zu nutzen und ihre Miete zu zahlen.
Immerhin war schon der Zehnte des Monats und entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war ihr Vermieter bisher nicht aufgekreuzt.
Emely bog ab, fuhr zu der Häuserzeile, in der sich nicht nur ihr Salon befand, sondern auch das Büro der Verwaltung, parkte den Wagen und betrat das Gebäude.
Mercedes, Sekretärin und Faktotum für alles, hob bei ihrem Eintreten kaum den Kopf, fuhr fort, Aktenordner in eine blaue Plastiktasche einzuräumen.
„Hola Emely. Lo siento, es tut mir leid, heute habe ich keine Zeit. Ich muss nach Manacor. Es ist der letzte Tag, um die Steuerunterlagen einzureichen.“
„Mach dir bloß keinen Stress“, beeilte sich Emely zu sagen, „ich möchte lediglich meine Miete loswerden. Eine Quittung kannst du mir später ausstellen. Salvatore ist bisher nicht kassieren gekommen, und ich trage das Geld ständig mit mir herum.“
Mercedes hielt kurz inne. „Der Chef ist krank.“ Gleich darauf packte sie weitere Ordner in die Tasche.
„Etwas Ernstes?“, fragte Emely.
Mercedes nickte. „Er hat sich schon seit Tagen nicht wohlgefühlt, wollte aber absolut nicht hören. Jetzt hat er eine Lungenentzündung. Doktor Ferról sieht täglich nach ihm, aber sonst ist keiner von der Familie da. Pilar macht einen Kurs auf dem Festland und Martí ist beruflich in Amerika. Sogar Marga ist fort, auf Urlaub in Paris. Mit so etwas ist wirklich nicht zu spaßen, doch Salvatore will immer noch nicht hören, denkt, er kann alles alleine machen. Normalerweise fahre ich mittags zu ihm, bringe, was er so braucht, aber heute geht es absolut nicht.“
Mercedes warf einen Blick auf die Uhr und griff hastig nach dem Schlüsselbund, der auf dem Tisch lag. Sie schulterte eine der Taschen und machte Anstalten, auch noch die zweite zu nehmen, die unter dem Schreibtisch stand.
„Du kannst unmöglich beide gleichzeitig tragen“, sagte Emely schnell und griff zu.
Mercedes zuckte nur die Schultern. „Also – wenn du mir wirklich damit helfen willst, sage ich nicht Nein. Ich bin schon viel zu spät dran, kann daher unmöglich zweimal gehen. Und dieser ganze Kram hier ist entsetzlich schwer.“
Zusammen verließen sie das Büro, das Mercedes akribisch absperrte.
„Ich könnte statt dir zu Salvatore fahren. Heute ist mein freier Tag. Was soll ich ihm denn alles bringen?“, nahm Emely das Gespräch wieder auf.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Er ist zurzeit nicht besonders gut drauf. Du weißt ja, wie kranke Männer nun einmal sind, und Salvatore ist besonders eigensinnig. Nicht einmal meine Mutter hat er ins Haus gelassen, als sie sich um ihn kümmern wollte.“ Mercedes warf einen Blick über die Schulter und verdrehte die Augen.
„Er kann mich ja auch hinauswerfen, wenn er will. Danach hat er wenigstens etwas zu essen“, schmunzelte Emely.
Mercedes öffnete den Kofferraum und sie stellten die Taschen hinein.
„Wenn es dir wirklich nichts ausmachen würde …“ Mercedes zögerte. „Ich habe am Morgen bereits einiges für ihn besorgt, sogar die Medikamente, die er dringend braucht. Außerdem wünscht er noch ein gebratenes Hühnchen. Ich wollte es von der Rosticería, dem kleinen Grill beim Kreisel, mitnehmen“, sagte sie und hielt zwei Tüten in die Luft. „Für deine Hilfe wäre ich dir wirklich sehr dankbar. Zu dumm, dass ich gerade heute … Aber wenn ich vorschlage, dass meine Mutter nach dem Rechten sieht … Er kann aber auch so etwas von stur sein!“ Mercedes wollte noch etwas sagen, unterbrach sich aber und lachte etwas gezwungen.
Offensichtlich schwankte sie zwischen Loyalität und Mitteilungsbedürfnis, dennoch war unschwer zu merken, dass sie sich um ihren Chef offenbar weitaus größere Sorgen machte, als sie zugab.
„Mach dir keinen Kopf. Ich bekomme das schon hin.“ Emely nahm die Tüten und ging zu ihrem Wagen.
„Muchas gracias“, rief ihr Mercedes noch nach, während Emely bereits die Fahrertür aufschloss.