Brunch mit Linda

„Zwei Minuten und wir sind auf Sendung.“
Hatte dieser Satz in Linda Ziegler zu Beginn ihrer Karriere noch heftiges Herzklopfen ausgelöst, war er inzwischen Alltag. Bestandteil des täglich gleichen Ablaufs in ihrer Rolle als Moderatorin des staatlichen Senders.
Vieles war Routine geworden, was einst das Adrenalin in ihre Adern gepumpt hatte. Schon das bloße Abstellen des Wagens auf dem Parkplatz des Senders samt Passieren der Kontrollschranke hatte ein Erlebnis dargestellt, einen Meilenstein, mit dem sie endlich Einzug hielt in jene Welt, die zu erobern sie sich schon als kleines Mädchen vorgenommen hatte.
Während ihre Freundinnen mit Puppen spielten, Haare flochten oder Kleider tauschten, imitierte Linda vor einem imaginären Mikrofon, das mit Hilfe einer Karotte oder Kartoffel Gestalt annahm, sämtliche Fernsehansagen, derer sie habhaft werden konnte. Vom Wetterbericht bis zum Abendprogramm.
Später, als sie bereits zur Schule ging, verfasste sie ihre eigenen „Reportagen“, wie sie die Geschichten nicht ohne Stolz nannte, und kein Mitglied ihrer Familie und erst recht kein Besucher war gefeit davor, sie anhören zu müssen. Je älter Linda wurde, desto ausgereifter wurden die Reportagen, dennoch waren die Menschen ihrer Umgebung kaum noch willens, sie anzuhören.
Doch das störte Linda nicht. Sie nahm es schlichtweg nicht zur Kenntnis. Stellte sich in die Mitte des Raumes, rief: „Aaaachtung, Ruhe, wir gehen auf Sendung!“, und legte los.
Die erstarrten Mienen der Gäste beachtete sie nicht, auch das „Linda, nicht schon wieder, das interessiert keinen“ ihrer Mutter nicht. Nichts hielt sie auf, ihren neuesten Beitrag anzubringen.
Eine eigene Sendung. Gäste, die sich bei ihr versammelten. Eine Diskussion leiten. Die Themen vorgeben oder zumindest federführend mitbestimmen. Das war ihr Ziel.
Und sie würde es erreichen. Daran hegte sie keinen Zweifel.
Das war ihre Motivation, Klassenbeste zu werden, ihr Studium in vorgegebener Zeit zu absolvieren und eines der begehrten Stipendien für ein Auslandsjahr zu erhalten, das sie schließlich in die USA führte.
Mochten ihre Kommilitonen in die Disco gehen, ganze Nächte durchdiskutieren – Lindas Leben war anderweitig verplant. Ihr Ziel stets vor Augen, lernte sie schnell, an wichtige Leute heranzukommen, gut informiert zu sein und die Zeit optimal zu nutzen. Ein Leben auf der Überholspur. Das war es, was ihr gefiel.
So bestand ihr Freundeskreis vorzugsweise aus Menschen, die dieses Tempo mithielten. Nicht dass Linda Freunde danach aussuchte, ob sie von Nutzen waren. Dennoch ergab es sich meist, dass sie Menschen besonders sympathisch fand, die als einflussreich galten. Oder zumindest Leute kannten, die bedeutend waren.
Spontan und kommunikativ, wie Linda war, fiel es ihr auch nicht schwer, mit jedermann ins Gespräch zu kommen, sofern sie das wollte. Dabei war sicherlich von Vorteil, dass sie ein mehr als ansprechendes Äußeres besaß.
Mittelgroß, mit einer Figur, an der man nicht das Leiseste auszusetzen fand, zog insbesondere Lindas Gesicht die Menschen sofort in ihren Bann. Von sanfter Weiblichkeit und mit einem hinreißenden Lächeln gesegnet, sorgte ihr Intellekt für eine zusätzliche Bereicherung, die Linda nicht im Pulk der sonstigen Schönheiten untergehen ließ.
So punktete Linda schon früh mit ihrem Wiedererkennungswert. Den natürlichen Sexappeal betonte sie gerade einmal so stark, wie es ihr dabei behilflich war, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sobald sie einen Raum betrat.
Es war einer dieser Bewunderer, der Linda zu ihrem ersten Job in den Staaten verhalf. Sein Name war John, möglicherweise auch Jim, so genau konnte sich Linda nicht mehr erinnern, jedenfalls war er für die Wetternachrichten des Lokalsenders zuständig.
Er half Linda, ihre damals noch dürftige und eher unamerikanische Aussprache zu verfeinern, zumindest so weit, dass sie die wenigen Sätze ohne störenden Akzent hinbekam.
Übermäßig viel Zeit nahm sich John‑Jim allerdings nicht für Lindas Sprachausbildung, dazu hatten sie in den wenigen Stunden, die ihm zwischen Job und Familie geradeso blieben, Wichtigeres zu tun.
Alleine trainierte Linda allerdings verbissen weiter, längst noch, nachdem er ihr Appartement verlassen hatte.
Als sie dann, achtzehn Monate später als ursprünglich vorgesehen, nach Europa zurückkehrte, hatte Linda die Tätigkeit einer Wetteransagerin vorzuweisen, wenn auch nur einer aushilfsweisen. Außerdem konnte sie perfekt Englisch. Falls notwendig, sogar mit amerikanischer Färbung.
Was also konnte sie hindern, ihrem Ziel weiter entgegenzustreben? Schritt für Schritt setzte sie auf ihrem Weg, arbeitete verbissen und ging aus so mancher geschlagenen Schlacht als Siegerin hervor. Sechzehn Jahre später war sie beinahe dort, wo sie sein wollte. Das war es wert gewesen.
Ihre Arbeit ersetzte die Familie. Freunde hatte sie genug. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken.
Während die Maskenbildnerin ein letztes Mal vorbeihuschte und über Lindas Gesicht tupfte, rückte sich Linda zurecht.
Ganz von selbst ordneten sich dabei ihre Züge und formten jenes Lächeln, von dem die Zuschauer dermaßen angetan waren, dass es inzwischen zum Markenzeichen geworden war. Vermittelte es doch jedem Einzelnen vor dem Bildschirm das Gefühl, dass Lindas Lächeln nur ihm galt.
„Einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren …“
Linda lächelte, während sie über den Krieg in Syrien berichtete, sie lächelte weiter, als ihr Interviewpartner ihr vorwarf, parteiisch zu sein bei der Wahl ihrer Fragen, und sie lächelte auch noch beim Verlesen des Wetterberichts.
Erst als die Kennmelodie verklungen und die Aufnahmelämpchen verloschen waren, hörte Linda auf zu lächeln.
Gleichzeitig begegnete sie dem Blick des Ressortchefs. Er stand unweit der Tür und sah zu ihr herüber.
Gewohnt, in ihrem Gegenüber sofort das Wesentliche zu erkennen, wurde Lindas Miene noch um eine Spur ernster, was keinem, der sie nicht sehr genau kannte, auffiel. Allerdings wusste Linda, dass der Ressortchef, dessen Vorname Horst war, sie sehr genau kannte.
So reichte dann auch ein Neigen seines Kopfes und eine kaum wahrnehmbar hochgezogene Augenbraue, um Linda klarzumachen, dass er sie dringend sprechen wollte – und das nicht in Bezug auf ihre gemeinsame Arbeit.

***

Linda konnte sich nicht daran erinnern, wann ihr dermaßen kalt gewesen war wie gerade eben. Doch es lag nicht ausschließlich an den Temperaturen, obwohl der Tag nicht an einen Septemberbeginn, sondern an tiefstes Herbstwetter erinnerte. Die Schultern hochgezogen, das dünne Jäckchen fest an den Körper gepresst, lief Linda zu ihrem Wagen, dabei zitterte sie am ganzen Körper.
Der eisige Wind machte es nicht besser und der Nieselregen nässte ihre Wangen. Wovon auch sonst sollten sie sich so feucht anfühlen?
Die Bäume, die man dort angepflanzt hatte, um Schatten zu spenden auf dem Weg zum Auto während der Mittagshitze des Sommers – wenn man aus dem Schutz der vollklimatisierten Räume ins Freie musste –, wankten heute im Wind, und so manches dürre Ästchen oder frühwelke Blatt verlor den Halt und landete auf dem nassgrauen Asphalt.
Der nächtliche Himmel, wolkenverhangen und düster, wäre selbst bei bester Laune nicht geeignet gewesen, frohe Stimmung zu schaffen.
Ganze drei Mal musste Linda auf die Fernbedienung drücken, bevor sie merkte, dass sie den Schlüssel verkehrt hielt. Im Wagen legte sie die Arme über das Lenkrad, ehe sie den Kopf darauf sinken ließ.
Gefeuert.
Nur dieses eine Wort konnte sie denken. Man hatte sie entlassen.
In weite Ferne gerückt ihr Traum von der eigenen Sendung, wenn nicht für immer ausgeträumt. Alles, worauf sie hingearbeitet hatte, war zu Bruch gegangen unter den wenigen Worten, mit denen Horst ihr die ungeschminkte Wahrheit mitgeteilt hatte.
Da half es auch nichts, dass es nicht an der Qualität ihrer Arbeit lag, und auch nicht, dass sie keineswegs die Einzige war, die gehen musste. Beinahe die Hälfte der Belegschaft war von den einschneidenden Maßnahmen betroffen.
Nicht etwa, weil dem Sender das Geld ausging. Dieses würde auch in Zukunft ausreichend sprudeln.
Es lag daran, dass sich die politischen Verhältnisse geändert hatten, die Regierungszusammensetzung, um genau zu sein.
Jetzt kamen andere zum Zug. Jene, die Linda stets unterstellt hatten, parteiisch zu sein, ihre Präferenzen zu stärken, statt neutral bei der Fragestellung zu bleiben. Dabei wurden diese Fragen von den Ressortchefs vorgegeben.
Inzwischen gab es einen neuen Intendanten.
Sogar Horst war betroffen, auch er würde gehen müssen.
Somit konnte Linda auf seine Unterstützung nicht mehr zählen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.
Ihre stärkste Säule war geborsten und eingestürzt, trotz der Tatsache, dass sie mit Horst privat liiert war.
Was nur sollte sie anfangen?
Natürlich hatte sie mit einer solchen Möglichkeit rechnen müssen. Doch es entsprach nicht Lindas Wesen, sich von negativen Aussichten im Vorhinein ängstigen zu lassen.
Jetzt aber graute ihr davor, von vorne anfangen zu müssen, wie zu Beginn ihrer Karriere. Doch damals war sie jung gewesen.
Nicht, dass sie plötzlich alt wäre.
Doch vor einigen wenigen Wochen erst hatte sie ein großes Fest gefeiert, zu dem sämtliche ihrer Freunde geladen waren. Oder zumindest jene, die sie für Freunde hielt.
Linda, die sonst Veranstaltungen dieser Art liebte, war an jenem Tag bei schlechter Laune, musste sich zur Fröhlichkeit zwingen, litt unter Migräne und fühlte sich beinahe glücklich, als der Tag sich seinem Ende zuneigte.
Denn der Anlass des Festes war ihr vierzigster Geburtstag gewesen.
Seither war Linda seltsam verändert.
Natürlich merkten das die Menschen um sie herum nicht. Aber Linda selbst spürte es. Etwas war anders geworden. Machte sie unruhig und raubte ihr den Schlaf, bereitete ihr Kopfzerbrechen, verdarb ihr die Laune, so dass sie, die noch niemals an Depressionen gelitten hatte, sich manchmal fragte, ob sie nicht von solchen gerade heimgesucht wurde.
Allerdings wusste Linda genau, was sie quälte.
Es war ihre biologische Uhr, die jetzt so laut tickte, dass kein Karrierekick dieses Ticken übertönen konnte.
Sie war vierzig Jahre alt und allein.
Natürlich war da Horst. Und die anderen. Ihre Freunde. Die Kollegen. Doch keiner gehörte wirklich zu ihr. Niemand, der nicht ersetzbar, dessen Funktion nicht problemlos austauschbar wäre.
Das, was Linda bisher stets belächelt hatte, begann ihr jeden Tag stärker zu fehlen: eine Familie. Ein Partner, mit dem man alles im Leben teilte, nicht nur das gemeinsame Interesse am Beruf, gewürzt durch gelegentlichen Sex.
Außerdem war es die letzte Möglichkeit für ein eigenes Kind, falls sie eines wollte.
Der Gedanke erschreckte Linda zunächst und sie tat ihn ab. Wozu brauchte sie denn ein Kind? Sollte sie sich einsam fühlen, konnte sie sich immer noch einen Hund zulegen.
Doch der Gedanke ließ sich nicht mehr aus Lindas Kopf entfernen.
Ein Kind. Jemand, der sie liebte. Nicht nur ihr Lachen oder ihren Intellekt, nicht den Widerschein ihres Bekanntheitsgrades, in dem man sich sonnen konnte. Und auch nicht ausschließlich ihren ansprechenden Körper.