Wer Mondstaub sieht

Kapitel 1

Miguel Ferrer saß auf seinem Lieblingsstuhl unter dem Vordach des steinernen Fincagebäudes, schaukelte und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht genau. Doch er ahnte es.
Seit er vor wenigen Monaten seinen fünfundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war ihm das Warten zur Gewohnheit geworden.
An jenem besonderen Tag hatten ihm alle gratuliert. Sogar der Bürgermeister, obwohl sie einander nicht besonders gut lei­den mochten.
Letzteres war zu einem guten Teil darin begründet, dass der Bürgermeister gegen den Bau der Eisenbahnlinie gestimmt hatte. Das Projekt war inzwischen zwar wegen Geldmangels eingestellt worden, dennoch konnte ihm Miguel dieses Vor­gehen nicht verzeihen. Auch wenn er insgeheim wusste, dass er damit nicht ganz richtig lag, gab er dem Bürgermeister die Schuld am Scheitern des Unternehmens.
An seinem Geburtstag war die gesamte Familie erschienen. Zusammen zweihundertsechsundzwanzig Personen, darunter auch mehrere Säuglinge.
Miguel wusste von jedem Einzelnen den Vornamen. Darauf war er stolz.
Das Fest zu seinem Ehrentag hatte ihm, der überhaupt gern feierte, besonders gut gefallen.

Natürlich war Nicolau auch dabei gewesen. Er hatte bereits die Nacht bei Miguel verbracht, weil er wusste, wie gern sein Onkel den Sonnenaufgang von der Terrasse aus beobachtete, und ihm dabei Gesellschaft geleistet.
Nicolau war von jeher der Lieblings-Großneffe gewesen, mehr noch: Er war Miguel so nah wie ein eigener Sohn. Jener Sohn, den er nie hatte haben dürfen.

»Mondlicht ist etwas für die Jungen, in meinem Alter zäh­len nur noch die Sonnenaufgänge«, pflegte Miguel zu sagen.
Und Nicolau war bei ihm sitzen geblieben. Hatte fürsorg­lich eine Decke über seine Beine gebreitet – gegen die Kälte, denn immerhin war es bereits Anfang November – und ihnen beiden eine große Tasse mit heißem Kaffee gebracht.
Sie hatten nicht viel gesprochen, während sie gemeinsam beobachteten, wie das helle Licht der Dämmerung die Schat­ten der Nacht vertrieb, und dann ebenso schweigend dem roten Ball zugesehen, der sich seinen Weg durch die grauen Wolken am Horizont bahnte. Es bedurfte keiner Worte, um einander nahe zu sein. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft und überaus haltbar. Niemandem sonst gewährte Nicolau so tiefe Einblicke in sein Inneres, nicht einmal sei­nem eigenen Vater.

Schon aus diesem Grund war es für alle Familienmitglieder klar gewesen, dass Nicolau einmal Miguels Erbe sein würde – und damit der Padron über ein Stück Land, das so groß war, dass man seine Grenzen an einem einzigen Tag nur schwer abschreiten konnte. Es war schon immer Familienbesitz ge­wesen, hieß es. Und Nicolau hatte nie darüber nachgedacht, es war ein Erbe, das von Generation zu Generation weiterge­geben wurde. Einen vom Schicksal vorbestimmten Zeitraum lang würde er der Eigentümer sein dürfen.

Auf dem Papier gehörte es ihm bereits seit Jahren, denn Miguel hatte an seinem neunzigsten Geburtstag darauf bestan­den, die erforderlichen Urkunden zu unterzeichnen. Dennoch war nach wie vor Miguel der Padron und würde es auch bleiben, bis zum Tag seines Todes.

Höher und höher stieg die Sonne, wechselte ihre Farbe, wurde leuchtender – bis sie so hell erstrahlte, dass man ihr nicht länger mit den Augen folgen konnte.
Dafür wärmten die Strahlen jetzt die Gesichter der beiden, die nebeneinander auf der Terrasse ausharrten, und füllten alles ringsum mit dem neuen Leben des anbrechenden Tages.
Miguel griff nach Nicolaus Hand, worauf dieser ihm einen überraschten Blick zuwarf. Für gewöhnlich war es nicht Miguels Art, Gefühle in körperlichen Gesten auszudrücken, doch obwohl er sicher sein konnte, dass Nicolau über die Tiefe seiner Zunei­gung genau Bescheid wusste, schien er in letzter Zeit besonders bedacht zu sein, daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

»Wünsch mir, dass mein letzter Wunsch in Erfüllung geht«, sagte er daher auch jetzt zu Nicolau.
»Ich wünsche es dir«, antwortete Nicolau mit ruhiger Stimme, ehe er versuchte, Miguels Blick einzufangen. »Egal, wie viele es sind, alle deine Wünsche sollen sich erfüllen.«
Miguel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »ich habe nur noch diesen einen Wunsch.«
»Und was genau wünschst du dir?«, fragte Nicolau, wäh­rend er weiterhin die Hand des alten Mannes in seiner hielt.
Miguel lächelte. Es war ein stilles, beinahe trauriges Lächeln.
»Ich möchte, dass du alles bekommst«, sagte er.
Nicolau, der zunächst glaubte, Miguel würde von dem Land und anderen Besitztümern reden, horchte auf.
»Was meinst du damit? Was soll ich denn noch bekom­men?«, fragte er, und die Ratlosigkeit, die er empfand, schwang in seiner Stimme mit.

»Alles, was wichtig ist«, sagte Miguel. »Das, worauf es im Leben ankommt.«

Nicolau sah ihn weiter unbeirrt an. Dabei bildete sich zwi­schen seinen Augenbrauen eine Falte, und Miguel konnte be­obachten, wie er anschließend auch noch die Stirn runzelte, ehe sich seine Pupillen plötzlich verengten.

Für den alten, lebenserfahrenen Mann war es nicht schwer, den Augenblick zu erkennen, in dem Nicolau den Sinn hinter den Worten begriff, denn seine Augenlider zuckten ein wenig, ehe der Blick wie von selbst ins Leere ging, um sich an irgend­einem Punkt in der Ferne zu verlieren.
Kurz blitzte etwas wie Schmerz in den dunklen Augen auf, verwandelte sich gleich darauf wieder in den beinahe melan­cholischen Ausdruck, der Nicolau seit Jahren schon zu eigen war und den man, wenn man ihn nicht so gut kannte, wie Miguel es tat, leicht für eine gewisse Schwerfälligkeit hätte hal­ten können.
Dennoch ging Nicolaus Atem jetzt ein wenig schneller, und die Hand, mit der er sich in das volle schwarze Haar fasste, zit­terte.

Einmal mehr stellte Miguel fest, wie ähnlich ihm sein Groß­neffe war. Genau so hatte er selbst im Alter von achtundzwanzig Jahren ausgesehen: groß gewachsen, mit ebenmäßigen Zügen und einer olivfarbenen straffen Haut – kräftig von Statur, ohne füllig zu sein, mit Muskeln, die von der Arbeit auf dem Land gestählt waren.
Selbst im Charakter waren sie einander ähnlich. Obwohl beide kein Problem damit hatten, sich überall durchzusetzen, waren sie doch empfindsam.
Wie Miguel war Nicolau ein sanfter Mann, und so man­che Frau hätte ihn gerne für längere Zeit – wenn nicht gar für immer – behalten, obwohl er stets betonte, an keiner dauerhaf­ten Beziehung interessiert zu sein.
Die Hände in die Hosentaschen vergraben, stand Nicolau jetzt auf und gab vor, der aufgehenden Sonne noch ein wenig zusehen zu wollen.

Längere Zeit sprachen sie beide nichts und Miguel widmete sich seinem Kaffee.
Bis zu dem Moment, als es hupte, und ein rotes Auto inmitten einer Wolke aus staubiger Erde über den Zufahrtsweg bis vor die Terrasse rollte.
Während Nicolau gebannt auf den Wagen starrte, lächelte Miguel still vor sich hin.

Die Tür auf der Fahrerseite öffnete sich, und ein Paar Frau­enbeine tauchte auf, in flachen Sandalen mit langen Riemchen, die einander überkreuzend um die gazellenschlanken Fesseln und ebenso schlanken Waden gebunden waren.
Nicolau nahm die Hände aus den Hosentaschen, während er beobachtete, wie den Sandalen zunächst der gerüschte Saum eines weißen Kleides folgte, in dem – wie man gleich darauf zu sehen bekam – der vollendete Körper einer jungen Frau steckte, die sich gerade überaus elegant aus dem winzigen Auto schälte.

Ihre blonden Haare, scheinbar achtlos zu einem Pferde­schwanz gebunden, reichten ihr fast bis zur Hüfte und glänzten wie Gold in der Sonne.

Das Gesicht, so ebenmäßig, dass man es anstarren musste, wurde von dem hellen Augenpaar noch überstrahlt, das mit dem kirschroten Mund um die Wette lachte.

»Miguel«, rief sie. Ihre weißen Zähne blitzten, während sie eine riesengroße achteckige Schachtel balancierte, »Feliz cumple y Molts d’Anys!«

Sie kam die Stufen heraufgestürmt, drückte Nicolau – an dem sie ohne innezuhalten vorbeilief – die Schachtel in die Hände, stürzte auf Miguel zu und warf sich in dessen Arme.

»Alles Gute zum Geburtstag«, redete sie übergangslos wei­ter, »ich bin so glücklich, dass ich heute bei dir sein kann. Du bist der liebste und beste Mann in meinem ganzen Leben. Und ich wünsche mir, dass du noch viele Jahre in Gesundheit mit uns hier verbringen kannst.«

Sie küsste ihn auf beide Wangen, während ihre Finger unablässig seine Schultern streichelten.

Dann fanden sich beider Hände, und Miguel umfasste die ihren mit seinen Pranken, sodass sie völlig darin verschwan­den.

»Amina, Cariño. Dass du zu mir gekommen bist, ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das du mir hast machen kön­nen. Seit wann bist du auf Mallorca?«

»Seit gestern Abend. Ich wusste doch, wo ich dich heute finde. Fast hätte ich es geschafft, noch eher als die Sonne zu kommen. Aber dann hätten wir auf das hier verzichten müs­sen.«

Sie drehte sich zu Nicolau, der immer noch stumm an der­selben Stelle stand.

»Nico. Hola. Was sagst du? Ist mir die Überraschung gelun­gen?« Sie trat auf ihn zu, griff mit der einen Hand nach der Schachtel, fuhr mit der anderen durch Nicolaus Haar, zog ihn ein wenig näher an sich heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, die er bewegungs­los geschlossen hielt.

Gleich darauf wirbelte sie mit der Schachtel zu Miguel herum.

»Ganz frisch aus dem Horno. Genau wie diejenigen, die du früher für mich bereitgehalten hast. Damit ich nicht verhun­gere, wenn meine Mutter uns wieder einmal ausschließlich mit Gesundem ernährt hat. Wegen der Figur …«

Sie lachte. Es war ein glockenreiner Klang und passte zu ihr.

Noch während sie die Schachtel auf dem Tisch abstellte, zog sie an dem blau-weißen Faden, mit dem diese zugebunden war.

»Oh je, Nico«, bat sie, »jetzt hat sich hier was verknotet, kannst du das vielleicht aufbekommen? Ich hoffe, ihr habt noch genügend Kaffee, oder soll ich frischen machen?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern lief ins Haus.

Nicolau bewegte sich nur langsam. Mit gesenktem Blick trat er an den Tisch heran. Während er nach dem Bindfaden griff, biss er sich auf die Lippen.

»Hast du gewusst, dass sie kommt?« Es schien, als hätte etwas in ihm diese Frage gegen seinen Willen gestellt.

Miguel beobachtete, wie er geschickt den Knoten löste und den Deckel abhob.

Er wurde einer Antwort enthoben, denn Amina kam im selben Moment mit einem Tablett zurück.

»Ich denke, ich habe nichts vergessen. Zerteilst du sie?«, fragte sie und reichte Nicolau, bevor er antworten konnte, ein großes Messer.

Dann schenkte sie den Männern Kaffee nach, gab ohne zu fragen Milch dazu und reichte Miguel den Zucker, nachdem sie in Nicolaus Tasse zwei gehäufte Löffel eingerührt hatte.

»Sie ist gefüllt. Mit Creme. Dir zu Ehren«, strahlte sie Miguel an, während sich Nicolau wortlos anschickte, die über­dimensional große Ensaïmada zu zerteilen.

Zu dritt saßen sie danach an dem Tisch, jeder von ihnen ein Stück der Hefeteigschnecke auf dem Teller.

Amina schob sich einen Bissen in den Mund, Zucker rie­selte auf ihren Rock. Noch während sie kaute, griff sie mit einer Hand nach Miguel und mit der anderen nach Nicolau.

»Ich kann gar nicht sagen, wie schön es hier ist. Das ist der schönste Morgen seit Monaten. Ich habe mich so danach gesehnt, endlich wieder bei euch zu sein.«

»Und warum bist du dann nicht eher gekommen?« Nico­laus Stimme klang knapp.

»Weil sie in Deutschland gebraucht wird«, mischte sich Miguel ein. »Jeder von uns muss dort leben, wo sein Platz ist.«

Nicolau sagte nichts. Beschäftigte sich mit dem Gebäck und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

Amina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihn. Dann legte sie ihren Kopf ein wenig schief. »Was ist mit dir? Du bist so schweigsam. Freust du dich nicht, dass ich hier bin?«, fragte sie.

Miguel bemerkte wieder die Falte zwischen Nicolaus Brauen, die immer dann erschien, wenn er angespannt war. Trotzdem klang seine Stimme ruhig, als er antwortete.

»Natürlich freue ich mich. Das weißt du.«

»Schön.« Irgendwie wirkte Amina plötzlich fahrig. Gleich darauf aber lachte sie wieder. »Ich freue mich auf diesen Tag mit euch beiden. Ihr wisst gar nicht, wie sehr.«

 

***

Nicolau holte Amina von zu Hause ab, um mit ihr gemeinsam zu dem Geburtstagsfest zu fahren.

Nicht, dass sie es vorher vereinbart hätten – das wäre auch nicht notwendig gewesen, denn es war einfach selbstverständ­lich. So sehr, dass niemand auch nur auf die Idee gekommen wäre, es könnte diesmal anders sein.

Nicolau kannte Amina seit seinem neunten Lebensjahr. Damals hatte sie ihren allerersten Sommer auf Mallorca ver­bracht.

Sie war gerade einmal sechs und ihre Mutter hatte die Finca gekauft, die im südlichen Bereich an Miguels Land angrenzte.

Wie sollte er jemals ihr erstes Zusammentreffen vergessen?

Mit den kleinen Fingern hatte sie die Maschen des Zaunes umklammert, der die Pflanzen auf dem Grundstück ihrer Mut­ter vor dem nie versiegenden Appetit von Miguels zahlreichen Schafen schützte.

Auch damals trug sie ein weißes Kleid, hatte blonde Zöpfe und eine Zahnlücke genau in der Mitte.

Sofort als sie ihn sah, begann sie, auf ihn einzureden.

Naturgemäß verstand er kein Wort. Denn sie sprach Deutsch.

Irgendwann tippte sie mit dem Finger auf ihre Brust und sagte »Amina«, wobei sie jede der Silben einzeln betonte.

Gleich darauf deutete sie in seine Richtung, während sie den Kopf ein wenig schräg legte und ihn strahlend anlachte.

»Nicolau«, sagte er. Ihre Augen schienen ihn zu durchbohren, so angestrengt musterte sie ihn. »Nico«, sagte sie dann, winkte ihm zu, drehte sich um und lief bergauf in Richtung des Hauses.

Er stand immer noch am Zaun und blickte ihr nach, sah das weiße Kleid zwischen den Stämmen der Mandelbäume auf­blitzen. Dann erst war sie seinen Blicken entschwunden.

Was genau hatte er erwartet, als er am nächsten Tag zur gleichen Zeit an jene selbe Stelle ging? Er hätte es nicht zu sagen gewusst.

Sie aber war schon dort. Stand am Zaun und wartete.

Diesmal hatte sie ein Stück Kuchen dabei, hielt es einfach in der Hand und streckte es ihm entgegen. Die Glasur zerschmolz in der Hitze des Sommers, und nicht nur ihre Hand, auch das Kleid, das sie trug, war voller Schokoladeflecken.

»Nico«, sagte sie, zeigte auf die kleinen Quadrate des Maschendrahtzauns und bedeutete ihm, darüberzuklettern.

Er wusste, dass er das nicht tun sollte. »Du machst den Zaun kaputt«, pflegte sein Vater zu sagen.

Stumm beobachtete sie, wie er auf seiner Seite hochklet­terte, um dann mit einem großen Satz auf ihrer hinunterzu­springen. Dabei quietschte sie vor Vergnügen, rief etwas in der fremden Sprache und klatschte in die Hände, wobei sie das Kuchenstück noch mehr zerdrückte.

Gleich anschließend hielt sie es ihm hin. Er nahm es und steckte es als Ganzes in den Mund.

Noch während er kaute, drängte sich ihre Hand in die seine. Klein und warm fühlte sie sich an. Und klebrig.

Sie zog ihn mit sich, den Grund hinauf. Bog vor dem Haus seitlich ab, zu dem Platz, auf dem der große Johannisbrotbaum stand, dessen dünne Äste mit den fedrigen Blättern bis fast auf den Boden herabreichten. Nachdem sie diese ein wenig zur Seite geschoben hatte, schubste sie ihn sanft unter das Blätter­dach, das sich hinter ihnen wie ein Zelt wieder schloss.

Mit der freien Hand deutete sie in die Krone hinauf.

Bewundernd blickte er auf das Baumhaus, das zwischen den dicken Ästen befestigt war. Es war so groß, dass man auf­recht darin stehen konnte, hatte eine Plattform, die wie ein Balkon wirkte, und einen geschlossenen Raum mit einer Fens­teröffnung. Eine hölzerne Leiter führte hinauf.

Nach der griff Amina jetzt, wobei sie gleichzeitig den Fuß auf die unterste Sprosse setzte.

Die Aufforderung in ihren Augen, ihr beim Erklimmen zu helfen, war unübersehbar.

Zusammen kletterten sie zu dem Haus – er, dicht hinter ihr, hielt sie fest, wenn sie auszurutschen drohte, sicherte sie, so gut er konnte, und schubste am Schluss ihren Po einfach über die Plattform.

Der Blick, mit dem er das Haus begutachtete, entging ihr nicht, und sie strahlte über das ganze Gesicht. Dicht neben­einander saßen sie danach auf dem Bänkchen im Inneren des Hauses. Sogar ein Tisch war dort und ein hölzerner Schrank, aus dem Kochtöpfe, eine Puppe mit langen silbrigen Haaren und eine Schachtel bunter Bauklötze hervorquollen.

Plötzlich durchschnitt eine energische Frauenstimme die Stille: »Amina«, rief sie, und dann noch etwas, was Nicolau nicht verstand.

Amina rutschte von der Bank, kroch unter den Tisch, und deutete ihm, zu ihr zu kommen.

Die Stimme wurde lauter, kam näher.

Amina legte verschwörerisch den Finger auf ihre Lippen.

Jetzt hielt die Stimme direkt unter dem Baumhaus. Sie klang ein wenig atemlos.

»Und wer bist du? Was machst du dort oben?«, fragte sie plötzlich, und Nicolau fiel auf, dass die Frau, zu der sie gehörte, Spanisch sprach. Versteckt, wie er war, musste sie ihn schon beim Hochklettern gesehen haben.

Amina hielt ihn immer noch fest. Krallte sich förmlich in seinen Ärmel.

»Ich bin Nicolau. Miguels Großneffe und bei ihm auf Besuch«, rief er, während er versuchte, unter dem Tisch hervorzukommen.

»Okay, Nicolau, dann steigt ihr beide jetzt herunter. Amina darf nicht allein zu dem Haus. Dazu ist sie noch zu klein. Ich helfe euch beim Abstieg. Du kommst als Letzter.«

Zusammen kletterten sie Sprosse für Sprosse abwärts. Not­gedrungen ließ Amina Nicolaus Hand los, um sich besser fest­halten zu können, ergriff sie jedoch sofort wieder, als sie unten angekommen waren.

Nicolau fühlte sich etwas unbehaglich. Auch wenn er die Frau nicht verstand, war ihm klar, dass sie mit Amina schimpfte.

Die schien davon ziemlich unbeeindruckt. Sie sagte einen Satz, in dem das Wort »Nico« viermal vorkam, klammerte sich weiter an seinen Arm und sah gleichzeitig zu ihm auf.

»Wie alt bist du, Nicolau?«, fragte die Frau.

»Neun. Nächstes Jahr werde ich zehn«, antwortete er.

»Gut, Nicolau. Dann bist du bereits ein großer Junge und weißt, was Verantwortung bedeutet. Versprich mir, dass ihr nicht wieder allein hinaufklettert. Es ist zu gefährlich für Amina, sie ist erst sechs. Ihr zwei geht nur in das Baumhaus, wenn ich bei euch bin. Hast du das verstanden?«

Natürlich versprach er es. Und ebenso natürlich brach er sein Versprechen, wann immer Amina ihn darum bat. Immer wieder. Bis man sie erwischte.

Das Strafgericht würde er sein Leben lang nicht vergessen. Sogar seinen Vater hatte man herbeibeordert.

Danach durfte er nicht länger bei Miguel auf der Finca blei­ben, sondern musste zu seinen Eltern in die kleine Kreisstadt zurückkehren.

Eine ganze Woche lang.

Dann brachte sein Vater ihn zurück, und Miguel erzählte ihm, dass Amina sich geweigert hatte zu essen, stattdessen näch­telang nach ihrem Nico gerufen und geweint hatte.

Schlussendlich war es ihre Mutter, die nachgab.

Amina musste ganz fest versprechen, niemals mehr ohne Nicolaus Hilfe die Leiter zu besteigen. Eine Zusage, die sie kein einziges Mal brach.

Seit diesem Tag waren sie beide, so oft es nur möglich war, zusammen gewesen. Elf Jahre lang. Jeden Sommer. Alle Tage.

Bis Amina plötzlich nicht mehr wiederkam.

***

Als Nicolau und Amina auf dem Fest eintrafen, waren die meisten anderen Gäste schon dort. Die Geburtstagsfeier fand in einem alten Gehöft statt, am Rande der kleinen Stadt, ein wenig außerhalb des Ortskerns. Die zahlreichen Gebäude, darunter ehemalige Stallungen, Scheunen und das Wohnhaus, waren mit viel Liebe zum Detail restauriert worden und dienten jetzt agrotouristischen Zwecken. Das Lokal selbst befand sich in der ehemaligen Ölmühle. Diese lag inmitten eines prächtigen Gartens mit uralten Olivenbäumen, üppigen Pflanzen, die trotz der späten Jahreszeit immer noch blühten, und unzähligen von Ranken bewachse­nen Nischen, die im Sommer stets angenehm kühl waren.

Die reizvolle Architektur des historischen Gemäuers gab so mancher großen Feier einen festlichen Rahmen. Heute Abend war es wieder einmal erfüllt von dem Lachen der Menschen, die es mit ihrer Fröhlichkeit zum Leben erweckten.

Sie hatten es sich überall gemütlich gemacht, standen in Gruppen auf den Kieswegen, Rasenflächen und der Terrasse, unterhielten sich und sprühten vor Lebensfreude und guter Laune.

Die Steine, aus denen das Haus gebaut war, waren über die vielen Jahrzehnte verwittert, doch die weiten Bögen und hohen Decken verliehen ihm eine herrschaftliche Würde. Stolz zeigten die dunklen Holzbalken und glänzenden Steinböden im Inneren die Spuren ihres beachtlichen Alters.

Rund um die Ölpresse in der Mitte des weitläufigen Rau­mes hatte man zahlreiche Tische gruppiert.

An den Seiten bildeten die durch halbhohe Mauern unter­teilten Lagerflächen intime Winkel und sorgten so für eine un­erwartete Gemütlichkeit.

Gleich mehrere Musiker heizten die Stimmung weiter an.

Unabhängig voneinander spielten sie auf: im Garten, auf der Terrasse und im Lokal – wechselten einander ab, sodass keine Pause entstand und die Gäste immer fröhlicher wurden.

Einige der Künstler hatte man engagiert, die meisten aber waren Freunde, die darauf bestanden hatten, an diesem beson­deren Tag aufzuspielen.

Auch im Garten standen noch Tische, luden zum Verweilen ein. Obgleich der Abend nicht lau war wie an Sommertagen, lag der Garten doch windgeschützt, und der Ausgelassenheit der Gästeschar tat das keinen Abbruch.

Schmiedeeiserne Lampen verströmten ihr weiches Licht, beleuchteten die Bäume entlang der Außenmauern und spie­gelten sich in dem kleinen Bach, der die weiche Rasenfläche in der Mitte teilte und am Ende in einen kleinen Wasserfall mündete.

Überall brannten Fackeln. Ein großes Holzfeuer loderte vor der Terrasse, wo sich ein Spanferkel auf einem Spieß drehte.

Der Duft des knusprig gebratenen Fleisches vermischte sich auf verführerische Weise mit dem Geruch des brennenden Hol­zes.

Durch das dichte Spalier der unzähligen Menschen zog Amina jetzt Nicolau mit sich. Unentwegt blieb sie mal hier, mal dort stehen, um jemanden zu begrüßen oder begrüßt zu wer­den.

Fragen wurden gestellt, Antworten gegeben. Amina schien immer noch mit jedem Einzelnen so vertraut, als hätte man einander am Vortag zuletzt gesehen.

Nicolau blieb dicht an ihrer Seite. Er hätte selbst dann nicht von ihr fortgekonnt, wenn es sein Wunsch gewesen wäre, denn sie ließ seine Hand nicht eine Sekunde los.

Ihm kam es vor, als hätte jeder der Anwesenden fest damit gerechnet, sie beide hier zusammen anzutreffen. Ganz genau wie in den vergangenen Jahren, als sie beide noch Kinder und unzertrennlich gewesen waren.

Es dauerte einige Zeit, ehe sie das Podest erreichten, auf dem sich Miguels Ehrentisch befand.

Er winkte Amina näher heran, streckte die Arme nach ihr aus, und sie kuschelte sich sofort hinein. Wie selbstver­ständlich setzte sie sich dann auf den freien Stuhl dicht neben ihm. Miguel suchte ihre Hand und behielt sie fest in der sei­nen, gleichzeitig griff er nach Nicolau, den er auf seine andere Seite zog.

Die anderen am Tisch, die überwiegend zu Nicolaus engerer Familie gehörten, unterbrachen ihre Gespräche und Antònia, Nicolaus Mutter, überhäufte Amina mit Fragen.

Nicolau spürte, wie Miguel ihn währenddessen unablässig musterte – als wolle er tief in seinem Inneren forschen.

Er lehnte sich betont entspannt zurück und ließ seinen Blick durch den weiten Raum schweifen, betrachtete ihn so ausführlich, als wäre er noch nie zuvor da gewesen.

Ein junger Mann mit Gitarre unterbrach seinen Vortrag, mit dem er eben noch für Stimmung gesorgt hatte, um ein eigens für Miguel komponiertes Lied anzukündigen. Gleich darauf nahm er das Instrument wieder zur Hand und begann zu spielen.

Es war eine melancholische, doch zugleich auch mitreißende Weise, die alle in ihren Bann zog. Auch Miguel schien sie sehr zu gefallen, denn er wippte mit dem Fuß und klopfte gleichzeitig mit den Fingern den Takt auf das Tischtuch.

Die Gespräche verstummten.

Als Nicolau den Kopf wandte, begegnete er Aminas Blick. Er konnte nicht anders, als sie ebenfalls anzusehen, bis sie sich wegdrehte und besonders aufmerksam den Musiker beobach­tete.

»Ich habe Miguel versprochen, seinen fünfundneunzigsten Geburtstag mit ihm gemeinsam zu feiern. Und was ich verspre­che, halte ich«, sagte Amina später zu Nicolaus Mutter, als das Lied und der Applaus verklungen waren.