Septembersonne

Eva-Maria Farohi

Donnerstag

Sie lehnte an der kleinen Mauer und blickte zum Meer hinüber. Die endlos weite Fläche schimmerte im sanften Licht der einbrechenden Dämmerung. Nur wenige Leute waren noch am Strand – Einheimische, dachte sie, die nach der Arbeit ein wenig schwimmen wollten.
Sogar die Uferpromenade war menschenleer. Alle schienen beim Abendessen zu sein, doch Monika hatte keinen Hunger, sie war immer noch zu aufgewühlt. Niemals hätte sie gedacht, dass sie heute Abend hier sein würde.
War das alles wirklich erst gestern gewesen?
Ihre Kollegin hatte am Fenster gestanden. Vier Jahre lang arbeiteten sie schon zusammen in der Schmuckabteilung des großen Kaufhauses. Monika sah die Tränenspuren. „Was ist passiert?“
Irene ließ die Hände sinken. „Meine Mutter, sie ist gestürzt. Jetzt braucht sie rund um die Uhr Hilfe. Tagsüber springt meine Schwester ein, aber in der Nacht bin ich bei ihr.“
„Morgen beginnt doch dein Urlaub?“
„Ja, und ich habe die Reise nicht versichert …“
Monika wusste, was das bedeutete. Keine von ihnen war in den letzten Jahren im Urlaub gewesen, schon gar nicht am Meer.
Plötzlich hob Irene den Kopf. „Was, wenn du fährst?“
„Ich habe keinen Urlaub. Außerdem kann ich mir das nicht leisten.“
„Hör zu, den Urlaub können wir tauschen. Ich gebe dir das Arrangement ganz billig. Besser, als wenn es verfällt. So haben wir beide etwas davon.“
Die Luft war angenehm warm. Langsam verfärbte sich der Himmel. Das helle Grau wechselte in ein mattes Lila, und himbeerrote Wolkenfetzen zogen über den Horizont. Hoch über ihrem Kopf glitzerten zwei Flugzeuge im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Dicht hintereinander flogen sie, wie aufgefädelt an einer Kette aus gelborangen Kondensstreifen.
Im Osten ragte eine Landzunge in die Bucht hinein. Sie wirkte unbebaut. Nur auf der obersten Kuppe stand ein viereckiges Gebäude, das mehr einem Turm glich als einem Haus. Das Gebiet war dicht bewaldet, doch zwischen den Bäumen leuchteten einzelne Wiesenflecken im goldenen Licht der Sonne.
Der Sand der Bucht war hell. Gruppen knorriger Bäume formten einsame Inseln, die mit dicken Kordeln vom Strand abgetrennt waren.
Es roch nach Meer, nach Algen, nach Fisch. Und auch ein wenig nach Kokosnuss so wie die Sonnenmilch in Monikas Badetasche.
Sie zog die Schuhe aus und ging durch den warmen Sand zum Wasser.
Kleine Wellen schwappten über ihre Füße, der Boden hier fühlte sich kühl an. Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, schlenderte sie weiter.
Wann war sie zuletzt am Meer gewesen?
Sie dachte an ihren geschiedenen Mann. Mit ihm war sie öfter verreist – damals, als sie noch den kleinen Juwelierladen hatten.
Wieder spürte sie etwas von der alten Verbitterung und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Am Ende der Bucht war ein hölzerner Steg, der rund um das große Bierlokal herumführte. Es lockte sie, zu erforschen, was dahinter lag.
Plötzlich tauchte der Hund auf. Es war ein struppiger Mischling mit schwarzem Fell und weißen Flecken auf den Pfoten.
Sie bückte sich. Er rieb seine Schnauze gegen ihre Handfläche. Dann sprang er rückwärts, setzte sich und bellte auffordernd.
Sie lachte. „Du bist mir vielleicht einer. Was willst du denn?“
Er rannte fort, schien nach etwas zu graben, kam zurückgelaufen und legte eine leere Plastikflasche vor ihre Füße.
Es war lange her, dass sie einen Hund gehabt hatte. Auch das gab es nicht mehr in ihrem Leben.
Sie hob die Flasche auf und warf sie, so weit sie konnte. Wie ein Pfeil jagte er hinterher und brachte die Flasche zurück.
Monika setzte ihre Wanderung fort, doch der Hund wurde nicht müde, zu apportieren. Willig spielte sie mit ihm weiter, bis sie zu dem Steg kamen. Sie stieg die Stufen hinauf. Der Hund folgte ihr.
„Jetzt ist Schluss“, sagte sie und drehte sich um. „Geh zurück, nach Hause.“
Er machte Anstalten, ihr nachzulaufen.
„Nein.“ Sie blieb stehen, hob den Arm und deutete in die andere Richtung. „Geh zurück jetzt. Los.“
Der Hund zögerte, kratzte sich hinter dem Ohr, machte kehrt und trabte in Richtung der Promenade, und Monika ging weiter.
Das Quietschten von Reifen unterbrach ihre Gedanken. Ein Auto jagte mit überhöhter Geschwindigkeit um den Kreisel herum, in den die Stichstraße mündete. Sie hörte ein schrilles Jaulen – es klang wie der Schrei eines Vogels.
Monika zuckte zusammen, sie konnte nur noch die Rücklichter des Wagens sehen.
In der Mitte des Kreisels lag etwas, es war schwarz und unförmig, sah aus wie ein Sack. Sie ging darauf zu.
Noch ehe sie nahe genug war, um es genau erkennen zu können, wusste sie, was es war. Sie beschleunigte ihre Schritte, lief hin und griff nach dem Bündel.
Der Hund öffnete die Augen und wimmerte. Sein Schwanz bewegte sich ein wenig, so als versuchte er zu wedeln.
„Oh mein Gott, was ist denn passiert?“, Monika streichelte seinen Kopf, fasste unter die Flanke.
Es fühlte sich feucht an. Feucht und klebrig.
Hastig zog sie die Hand heraus. Sie war rot.
„Oh nein, was mache ich nur, was kann ich bloß tun?“ Sie drehte sich hilfesuchend um. Panik stieg in ihr hoch. Da bemerkte sie den Radfahrer.
„Hallo“, rief sie, und lief auf ihn zu. „Können Sie mir helfen?“
Er reagierte nicht, fuhr einfach weiter.
Sie kniete neben dem Hund. Er rührte sich nicht. Sein Atem ging stoßweise, begleitet von einem röchelnden Geräusch.
Es kam ein Auto. Eine Türe schlug zu.
„¿Qué pasa?“
„Signore“, stammelte sie. „Er ist angefahren worden. Non so – ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.“
Er hockte sich neben sie. Griff nach dem Hund.
„Er ist verletzt“, sagte er in tadellosem Deutsch. „Wir müssen ihn zum Tierarzt bringen. Ist das Ihr Hund?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, er ist unten am Strand herumgelaufen. Dann kam dieser Wagen. Bitte helfen Sie mir. Er kann doch hier nicht so liegen bleiben.“
Der Mann nickte, ging zu seinem Auto. „Legen wir ihn auf die Decke. So ist es gut. Können Sie ihn halten? Es ist besser, sie setzen sich auf die Rückbank.“

***

Sie saßen zusammen in dem Bierlokal beim Steg, dort, wo alles begonnen hatte. Es kam ihr inzwischen vor wie eine Ewigkeit. Sie fühlte sich leer und war dankbar, dass dieser Mann bei ihr war. Sie wollte jetzt auf keinen Fall alleine sein.
Er hieß Antonio, wusste sie inzwischen, und lebte irgendwo in der Nähe. Der Name der Stadt war ihr entfallen.
Vom ersten Augenblick an hatte er die Führung übernommen. Ohne seine Hilfe wäre sie überfordert gewesen. Seine höfliche Art und seine ruhige Stimme gefielen ihr.
Der Hund war jetzt versorgt. Ob er überleben würde, konnte man nur abwarten.
Der Tierarzt ging davon aus, dass er herrenlos war. Kein Halsband, keine Registrierung, der Zustand von Körper und Fell, alles deutete darauf hin.
Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie für die Behandlung würde aufkommen müssen, doch da hatten die Männer das Thema bereits unter sich ausgemacht.
„Wieso wollen Sie das bezahlen?“, fragte sie.
„Ich bin doch hier zu Hause, oder? Außerdem sind wir beide befreundet“, sagte Antonio mit einem Blick auf den Arzt. Und jetzt saßen sie also hier.
„Seit wann sind Sie auf Mallorca?“, begann er.
„Ich bin erst heute angekommen.“
„Und dann gleich so eine Aufregung am ersten Abend. Das tut mir leid. Ich hoffe, Sie können Ihren Urlaub dennoch genießen. Wie lange bleiben Sie? Vierzehn Tage?“
„Nein, nur eine Woche. Ich finde es jetzt schon wundervoll. Diese Landschaft … Was ich bisher gesehen habe, ist einfach großartig. Ich muss gleich morgen auf Erkundungstour gehen.“
„Morgen ist Markt bei uns in Son Servera. Vielleicht mögen Sie das?“
„Oh ja, sehr gerne sogar. Kann man zu Fuß hingehen?“
Er lachte. „Nein, das ist zu weit, aber sie können ein Taxi nehmen, es kostet nicht viel.“
Sie schwieg.
„Am Markttag fahren bestimmt auch mehrere Busse hinauf. Ihr Hotelportier weiß da besser Bescheid als ich“, fügte er hinzu.
„Son Servera. Ist das die Stadt, in der Sie leben?“
„Es ist mehr eine Ortschaft. Eine Kirche, schöne Steinhäuser, einige Lokale. Meine Firma ist in Son Servera. Wir verkaufen Wein, schon seit drei Generationen. Ich selbst wohne etwas auswärts … Meine Frau wollte auf dem Land leben, und jetzt … wohne ich weiterhin dort.“
„Ich bin auch geschieden. Einige Jahre schon.“
„Meine Frau ist tot“, sagte er.
„Oh, das tut mir leid, ich hätte Sie niemals danach fragen dürfen!“
„Sie haben mich nicht gefragt.“ Er machte eine Pause. „Es ist bald sechs Jahre her.“
Monika schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?
„Und Sie kommen aus Deutschland.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Sie nickte. „Ja, aus Düsseldorf. Ich verkaufe Schmuck.“
„Sind sie Juwelierin?“
„Ja. Das heißt nein. Ich bin gelernte Juwelierin und Uhrmacherin. Aber das war einmal. Zurzeit arbeite ich in einem Kaufhaus, wir haben eine Schmuckabteilung. Ich bin dort beschäftigt. Als Verkäuferin.“
Jetzt war er es, der schwieg.
„Wissen Sie“, fuhr Monika nach einer Weile fort. „Mit meinem Mann zusammen, also mit meinem Ex, hatten wir einen eigenen Juwelierladen. Nichts Aufregendes, aber einen schönen, soliden Laden. Ich habe viele der Stücke selbst angefertigt, und wir hatten eine große Zahl von Stammkunden. Leute die immer gerne wiederkamen. Mein Mann hat …“ Sie unterbrach sich.
„Sie müssen nicht weitersprechen, wenn Sie nicht wollen.“ Seine Stimme klang verständnisvoll.
„Um ehrlich zu sein, ich rede nie darüber.“
Wieder schwiegen sie.
Es war Monika, die weitersprach. „Mein Mann hat hinter meinem Rücken mit Aktien spekuliert. Und dann war alles weg. Wir haben nicht nur den Laden verloren, es sind sogar noch Schulden übriggeblieben. Er ist einfach abgehauen. Ich hatte viel Glück. Die Bank hat einen sehr kulanten Vergleich mit mir geschlossen, den ich bis vor Kurzem abgezahlt habe.“

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